Jubiläum: 15 Jahre Kampagne gegen Sozialwissenschaften

Seit rund 15 Jahren läuft in Deutschland eine Kampagne zur Diskreditierung des Schulfaches Sozialwissenschaften und ähnlicher Integrationsfächer wie Sozialkunde, Politik-Gesellschaft-Wirtschaft oder Gemeinschaftskunde. Hauptakteure sind Wirtschaftsverbände, unternehmernahe Stiftungen und Lobbygruppen, einige Wirtschaftsdidaktiker und in vorderster Front das Oldenburger Institut für ökonomische Bildung.
Ziel: Trennung von Wirtschaft und Politik
Allgemeines Ziel der seit 1999 mit langem Atem orchestrierten Kritik: Heraustrennung des ökonomischen Wissensbestände aus den bisherigen Ankerfächern wie Politik/Wirtschaft oder Sozialkunde zwecks Einrichtung eines Separatfaches Wirtschaft mit rein wirtschaftswissenschaftlicher Ausrichtung an allen allgemeinbildenden Schulen. Themen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sollen voneinander getrennt in eigenen Fächern unterrichtet werden.
Als ein probates Mittel präsentiert man der Öffentlichkeit immer wieder Befragungen und Tests, die beweisen sollen, dass das Wirtschaftswissen defizitär sei. Erst mit einem Schulfach Wirtschaft, so die Botschaft, werde sich das ändern. Belege dafür fehlen. Reine Spekulation ist auch, dass das ökonomische Wissen schlechter sei als anderes Wissen.
Trotzdem - oder deswegen - findet die inhaltlich schwach begründete Kampagne in einm Teil der Presse begeisterte Resonanz. Kampagnenführer im Bereich der Wirtschaftspresse sind Handelsblatt und Wirtschaftswoche, unterstützend wirken Journalisten von Blättern wie ZEIT und FAZ mit.
Zugunsten des politischen Drucks stellen sie dabei die journalistische Professionalität schon mal zurück.
Ein Schulbeispiel für Kampagnenjournalismus bietet der Beitrag "Schüler wollen Wirtschaft als Fach - Grüne nicht" von Lisa Becker in der FAZ vom 9.1.2014 (faz.net am 11.1.). Schon die Überschrift bringt eine schlichte Falschmeldung. Die Schüler (an den Realschulen in NRW) wurden gar nicht befragt, ob sie ein separates Fach Wirtschaft wollen oder nicht. Auch der Untertitel "Warum Gewerkschaften und Grüne sich aus der breiten Allianz für den Wirtschaftsunterricht verabschiedet haben" führt den Leser systematisch in die Irre: Keine der beiden Organisationen kommt im Artikel zu Wort.
Auch in Frankreich: Desinformieren und Verleumden
Eine parallele Kampagne erlebt Frankreich ebenfalls seit 1998. Einen historischen Überblick über die anhaltenden Angriffe auf das Integrationsfach gibt Thierry Rogel in "Von der Halbheit zur Verleumdung: 10 Jahre Unwahrheiten über den Unterricht in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" (in Frz.). 
Ein aktuelles Beispiel beschreibt Gérard Grosse in "Über die ökonomische Unbildung der Franzosen - einmal mehr" (in Frz.) auf der Webseite des Instituts für die Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Information, IDIES.
Die Veröffentlichung zweifelhafter Umfragen, die zeigen sollen, dass die Franzosen ökonomische Banausen sind, reißt nicht ab. Wirtschaftverbände, konservative Politiker und Journalisten beklagen in schöner Regelmäßigkeit die "wirtschaftliche Unbildung" der Franzosen
So kritisierte jüngst Pierre-Antoine Delhommais im bürgerlich-konservativen Wochenmagazin Le Point die Franzosen als ökonomische Dummköpfe. Marjorie Galy, Vorsitzende des Lehrerverbandes Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (APSES) weist diese Kritik in ihrer Gegendarstellung zurück (in Frz.).
Das angebliche ökonomische Nichtwissen schreiben konservative Bildungspolitiker, Wirtschaftswissenschaftler, Wirtschaftsverbände und Wirtschaftsjournalisten pauschal der Schule zu. Und ähnlich wie in Deutschland steht der Schuldige immer schon vorab fest: das Integrationsfach Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (sciences économiques et sociales). Auch die "Lösung" ist immer schon zur Hand: ein separates Pflichtfach Wirtschaft(swissenschaften).
Ein weitere Parallele zwischen Deutschland und Frankreich: Wissenschaftliche Beleg dafür, dass man in kleinen, nach Wissenschaftsdisziplinen getrennten Schulfächern besser lernt, fehlen bis heute. Die Verfechter der Fächerzerlegung ficht das nicht an, weder hüben noch drüben.
Reinhold Hedtke