"Der Weg der Hoffnung"

"Liebe Mitbürger", so beginnen Stéphane Hessel ("Empört Euch!") und Edgar Morin ihre kleine Schrift "Le chemin de l'espérance", "unsere Absicht ist, den perversen Kurs einer blinden Politik anzuprangern, die uns in Katastrophen führt.
Wir wollen einen politischen Weg des Allgemeinwohls darlegen.
Wir wollen eine neue Hoffnung ankündigen." (S. 7)
Sie plädieren für eine tiefgreifende politische Wende in Frankreich. Die Streitschrift ist im Februar 2012 in Deutsch als "Wege der Hoffnung" erschienen (Ullstein 9,99 Euro) und wird im April 2012 in Englisch als "The path to hope" veröffentlicht.
Einige Punkte aus ihrem Manifest sind für die pluralistische, lebensweltorientierte ökonomische Bildung relevant:
"Warum reformieren und transformieren?" fragen die Autoren und gehen in ihrer Diagnose u.a. auf die "Übel unserer Zivilisation" ein (S. 19):
"Dort, wo er vorgekommen ist, hat der materielle Wohlstand keinen mentalen Wohlstand mit sich gebracht, wie der maßlose Konsum von Drogen, Beruhigungsmitteln Antidepressiva und Schlafmitteln bei wohlhabenden Personen belegt. Indem man sich ausschließlich auf materiellen Komfort konzentriert, verfällt der [eigentliche] Bestimmungszweck des Wohlstands. Die wirtschaftliche Entwicklung hat ihr moralisches Pendant nicht mit sich gebracht.
Die Anwendung von Zeitmessung, Hyperspezialisierung, Abschottungen in der Arbeit, in den Unternehmen und Verwaltungen und schließlich sogar in unserem eigenen Leben, hat zu oft eine verallgemeinerte Bürokratisierung, den Verlust der Initiative und die Angst vor Verantwortung nach sich gezogen.
Die erfreulichen Fortschritte des Individualismus haben die unerfreulichen Rückschritte beim sozialen Zusammenhalt herbeigeführt." (S. 19-20)
Die Politik des guten Lebens
"Gegen die Hegemonie des Quantitativen, des Kalküls und des Habens müssen wir eine umfassende Politik der Lebensqualität, d.h. noch einmal: des guten Lebens fördern." (S. 27)
Arbeit und Beschäftigung
"Es gibt eine doppelte Krise der Arbeit: sie betrifft die Arbeitsbedingungen und die Beschäftigung. Durch die Überlastung des Personals, die aus dem Wettbewerbsdruck, der Rationalisierung (die die Rationalität der künstlichen Maschinen auf den Menschen anwendet), sind die Arbeitsbedingungen immer schwieriger geworden.
Die Reform, die wir skizziert haben, besteht darin, in den Unternehmen und Verwaltungen eine authentische humane Rationalität zu entwickeln, die die Kommunikation zwischen den getrennten Bereichen wiederherstellt und zugleich kreative Initiativen und eine Teilhabe aller an der Gesamtheit des Ergebnisses zulässt." (S. 35)
Die umfassende Wirtschaftsreform: Die pluralistische Wirtschaft
Hessel und Morin plädieren nachdrücklich für eine pluralistische Wirtschaft, in der sich kleine und mittlere Unternehmen, die Sozial- und Solidarwirtschaft (l'économie sociale et solidaire), der faire und gerechte Handel und die Wirtschaftsethik sowie eine grüne Wirtschaftsformen entwickeln (S. 37-38).
Sie verteidigen den Staat als "sozialen Investor" (investisseur social) gegenüber der neoliberalen Kritik (S. 39). Sie fordern einen "New Deal français", der die Infrastruktur innoviert (S. 41).
Nicht zuletzt setzen sie sich dafür ein, die Fixierung auf Konkurrenzfähigkeit zu reduzieren (competitivité als "forme exacerbée de concurrence"), zugleich aber den Wettbewerb  aufrechtzuerhalten (concurrence, S. 40-41).
Die auf Ausbeutung von rechtlosen Beschäftigten basierenden Niedrigpreise von Importen sollten besteuert werden (S. 41).
Bildung: Problemorientierung und Interdisziplinarität

"Man muss jeden Schüler mit den Fähigkeiten ausstatten, den grundlegenden und globalen Problemen die Stirn zu bieten, die jedes Individuum, jede Gesellschaft und die Menschheit insgesamt betreffen. Diese Probleme werden zu oft in und durch abgeschottete Disziplinen aufgespalten" (S. 46)
"In diesem Sinne muss diese Bildung die globalen und grundlegenden Probleme unserer Lebensweisen und unserer Epoche aufgreifen, was die Zusammenarbeit der disziplinären, voneinander separierten Wissensbestände einschließt." (S. 47)
Universität: Transdisziplinarität und Demokratie des Wissens
"Überall ist die Notwendigkeit der Interdisziplinarität anerkannt, solange bis man die Notwendigkeit der Transdisziplinarität einsieht. (...) Aber die Transdisziplinarität bietet nur im Rahmen einer komplexen Denkweise eine Lösung." (S. 51)
Die Macht der Experten und Spezialisten in allen Politikfeldern muss von einer "kognitiven Demokratie" (démocratie cognitive) abgelöst werden. Dies setzt eine Reorganisation des Wissens voraus, die eine Reform der Denkweisen verlangt, "die nicht nur das Trennen um zu erkennen, sondern auch das Wiederverbinden des so Getrennten erlaubt" (S. 52).
Reform der Politik und Revitalisierung der Demokratie
Die Politik des guten Lebens gelingt nur, so die Autoren, wenn man im Zwei-Fronten-Krieg zugleich "die Krake des Finanzkapitalismus" und die "Barbarei der nationalen Säuberung" im Keim erstickt (S. 57). In allen Bereichen müsse die "Hegemonie des Profits" zurückgedrängt und die Finanzspekulation ganz abgeschafft werden.
Reinhold Hedtke
(Texte aus der französischen Ausgabe übersetzt)