Die Ökonomie ist tief in der Kultur verwurzelt

In seinem Buch "Die Ökonomie von Gut und Böse" (Carl Hanser, München 2012, 24,90 Euro, 448 S.) setzt sich Tomáš Sedláček, ein junger tschechischer Ökonomon, mit dem Verhältnis von Ökonomie und Kultur auseinander. In der Einleitung (pdf) "Die Geschichte der Ökonomie: Von der Dichtkunst zur Wissenschaft" schreibt Sedláček:
"So, wie wir sie heute kennen, ist die Ökonomie eine kulturelle
Erscheinung, ein Produkt unserer Zivilisation (...)" (S. 14)
Ökonomische Mythen und Metageschichten
"Mit Sallusts Worten: Mythen sind das, »was nie geschah, aber immer ist«. Unsere modernen, auf strikten Modellen basierenden ökonomischen Theorien sind nichts anderes als Nacherzählungen dieser Metageschichten in einer anderen (mathematischen?) Sprache. Daher müssen wir die Geschichte von Anfang an kennen – wer nur Ökonom ist, wird nämlich nie ein guter Ökonom sein. Daher müssen wir die Geschichte von Anfang an kennen – wer nur Ökonom ist, wird nämlich nie ein guter Ökonom sein.
Wenn wir Ökonomen wirklich alles verstehen wollen, müssen wir
uns aus unserem Gebiet herauswagen." (S. 17)
"Letztlich geht es bei der gesamten Ökonomie um das Gute und das Böse oder Schlechte – Menschen erzählen anderen Menschen Geschichten über Menschen. Selbst die ausgefeiltesten mathematischen Modelle sind in Wirklichkeit Geschichten, Gleichnisse, ein Bemühen, die Welt um uns herum (rational) zu begreifen. Ich möchte zeigen, dass es bei der über ökonomische Mechanismen erzählten Geschichte bis heute im Wesentlichen um ein »gutes Leben« geht und dass sie aus den Traditionen der alten Griechen und der Hebräer stammt." (S. 17)
Ökonomie ist überwiegend normativ
"Man bringt uns Ökonomen bei, keine normativen Urteile darüber abzugeben, was gut und was böse oder schlecht ist. Doch die Ökonomie ist, im Gegensatz zu dem, was in den Lehrbüchern steht, überwiegend ein normatives Gebiet. Sie beschreibt die Welt nicht nur, sondern befasst sich auch häufig damit, wie die Welt sein sollte (sie sollte effektiv sein, den Idealen eines perfekten Wettbewerbs und eines hohen BIP-Wachstums bei niedriger Inflation
entsprechen, wir sollten uns bemühen, große Konkurrenzkämpfe zu vermeiden …). Zu diesem Zweck entwickeln wir Modelle, moderne Gleichnisse, doch diese (oft absichtlich) unrealistischen Modelle haben mit der realen Welt kaum etwas zu tun." (S. 18)
"Wertfrei zu sein ist übrigens schon ein Wert an sich, zumindest für die Ökonomen sogar ein großer. Es ist paradox, dass ein Gebiet, das sich vorwiegend mit Werten beschäftigt, wertfrei sein will. Und dass ein Gebiet, das an die unsichtbare Hand des Marktes glaubt, frei von Geheimnissen sein will.
In diesem Buch geht es um folgende Fragen: Gibt es eine Ökonomie von Gut und Böse? Zahlt es sich aus, gut zu sein, oder liegt das Gute außerhalb von jedem ökonomischen Kalkül? Ist die Selbstsucht dem Menschen angeboren? Kann man sie rechtfertigen, wenn sie zu etwas führt, was gut für die Gesellschaft ist? Wenn die Ökonomie mehr als ein mechanisch-allokatives, ökonometrisches Modell ohne tiefere Bedeutung (oder Anwendung) sein soll, muss sie sich solche Fragen stellen." (S. 19)
Blind für die wichtigsten Triebkräfte menschlichen Handelns
"Dieses Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten suchen wir in Mythen, der Religion, Theologie, Philosophie und Wissenschaft nach der Ökonomie. Im zweiten beschäftigen wir uns dann mit den Mythen, der Religion, Theologie, Philosophie und Wissenschaft in der Ökonomie." (S. 19)
"Die Mainstream-Ökonomen haben zu viele Farben der Ökonomie aufgegeben und sind zu stark vom schwarz-weißen Kult des Homo oeconomicus besessen, der die Fragen von Gut und Böse außer Acht lässt. Wir haben uns selbst blind gemacht, blind für die wichtigsten Triebkräfte der menschlichen Handlungen." (S. 21)
In Tschechien ist das Buch bereits 2009 erschienen, eine englische Version "Economics of Good and Evil" gibt es bei Oxford University Press (2011). Ein kurzes englisches Statement Sedláček von gibt es auf YouTube.
Den Zusammenhang von Ökonomie und Kultur hat Sedláček auch in seiner Dissertation im Fach Wirtschaftstheorie an der Prager Kars-Universität bearbeitet. Sie hat das Thema "Economic Anthropology -  on Philosophy, Religion and Methodology in Economic Science" (2001). Sedláček hatte und hat mehrere wirtschaftspolitische Beraterfunktionen inne, u.a. für den tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel, und ist Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrates der tschechischen Regierung.
In "Kulturzeit" vom 18.1.2012 hat 3sat das Buch besprochen, WDR3 diskutiert es in "Mosaik" vom 6.2.2012 in einem Gespräch mit dem Ökonomen und Philosophen Birger P. Priddat. Ein ausführliches Porträt des Autors samt Buchbesprechung findet sich unter dem Titel "Wir haben so viel" auf ZEIT Online vom 26.1.2012.
Peter Vogt bespricht das Buch eher kritisch im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 28.2.2012, S. 14: Seine "Suche nach den Archetypen wirtschaftlichen Handelns verführt Sedláček immer wieder zu einer Reihe von historisch äußerst fragwürdigen Hypothesen". Vogt wirft ihm vor, seinen eigentlich recht innovativen Ansatz, dass "wirtschaftliches Geschehen nur verstanden werden kann, wenn es historisch erklärt wird, indem es erzählt wird" dem "Mythos der Vorwegnahme" (Quentin Skinner) zu opfern, nach dem das historisch Frühere immer schon auf das Spätere verweist.