Experimentelle Empirie statt normativer Deduktion

"Schnelles Denken, langsames Denken" ist ein umfangreiches (und manchmal redundantes) Werk, das mit mehr als 600 Seiten die Quintessenz der langjährigen empirischen Forschungen von Princeton University und Kognitionspsychologe, hat - oft zusammen mit Amos Tversky - die Verhaltensökonomik über Jahrzehnte wesentlich geprägt und vorangetrieben.
Rezensionen und Videos

Rezensionen zum Buch findet man z. b. auf Süddeutsche.de (Jens-Christian Rabe: Schnelles Denken, langsames Denken, 24.6.12), bei 3sat.de (Dominique Gradenwitz, Psychologie - Schreck der Ökonomen, 16.5.12), bei wiwo.de (Lieber gründlich als intuitiv, 26.6.12).
Und ein paar Hinweise für Internationalisten:
The Guardian (Galen Strawson, Daniel Kahneman: 'We're beautiful devices'
, 14.11.11), The New York Times (Jim Holt, Not so smart now: The father of behavioural economics considers the feeble human brain, 29.10.11), Financial Times (William Easterly, Review of Thinking, Fast and Slow), im The Skeptic's Dictionary (Robert Todd Carroll, The King of Human Error, Dez. 2011). In Frankreich scheint das Buch noch nicht angekommen zu sein ...
Schließlich ein LSE-conversation, 15.11.11; hier auch ein 20-minütiges Video mit einem Vortrag Kahnemans betitelt The riddle of experience vs. memory - Das Rätsel von Erfahrung vs. Erinnerung, deutsche Untertitel).
Im Folgenden stelle ich einige aus meiner Sicht wichtige Erkenntnisse Kahnemans vor und tue dies vor allem unter dem Aspekt, was davon für eine neue, bessere ökonomische Bildung von Bedeutung ist.
Econs und Humans
Im Teil IV seines Buches, Entscheidungen, beschreibt Kahneman sein Erstaunen über den großen Unterschied zwischen den intellektuellen Welten, in denen Psychologinnen und Ökonominnen leben:
„Für einen Psychologen versteht sich von selbst, dass Menschen weder vollkommen rational noch vollkommen egoistisch sind und dass ihre Präferenzen alles andere als stabil sind. Unsere beiden Disziplinen schienen verschiedene Spezies zu erforschen, die der Verhaltensökonom Richard H. Thaler später Econs (Homo oeconomicus) und Humans (Normalsterbliche) nannte“ (Kahneman, S. 331). „Econs sind definitionsgemäß rational, aber es gibt erdrückende Beweise dafür, dass Humans nicht rational sein können“ (S. 508). (Zur Einführung in die Verhaltensökonomik z.B. als pdf online: Sendhil Mullainathan, Richard H. Thaler, Behavioral Economics, 2000)
Verstehen, ohne Vorabvorgaben
Während Ökonomen die Theorie des Erwartungsnutzens doppelt verwenden, „als eine Logik, die vorschreibt, wie Entscheidungen getroffen werden sollten, und als Beschreibung des Entscheidungsverhaltens der Econs“, wollten Psychologen wie Kahneman und Tversky „verstehen, wie Humans riskante Entscheidungen treffen, ohne irgendwelche Angaben über ihre Rationalität zu machen“ (S. 333).
Zu den Ergebnissen von Kahnemans Versuch zu verstehen gehören inzwischen schon klassische empirische Erkenntnisse über Entscheidungsmuster wie etwa die Verlustaversion (S. 347-352, 371-379), das Referenzpunktproblem (S. 337-341), der Endowment-Effekt (S. 365-268), die Präferenz-Umkehr (S. 435-445) oder ganz allgemein Framing-Effekte (S. 447-461). Die psychologische Hypothese, dass individuelle Wahlhandlungen kontextabhängig sind, gilt inzwischen als überlegen (S. 439). Sie wäre mit Anschlüssen an die Soziologie noch wesentlich differenzierter zu diskutieren; aus soziologischer Sicht werden die von Kahneman und Tversky herausgearbeiteten Effekte z. T. scharf kritisiert (z.B. aus einer Rational-Choice-Perspektive in Hartmut Esser, Soziologie, Spezielle Grundlagen, Bd. 1, Situationslogik und Handeln, Frankfurt u.a., 1999, 333-358, online zugänglich).
Bildung über Präferenzbildung: Konsistenz als frommer Wunsch
Zur logischen Konsistenz der Präferenzen von Humans bemerkt Kahneman lapidar, „sie ist ein frommer Wunsch“ (S. 412). „Wir haben weder die Neigung noch die mentalen Ressourcen, unsere Präferenzen konsistent zu strukturieren, und unsere Präferenzen sind auch nicht auf magische Weise auf Kohärenz ausgerichtet, wie sie es im Modell des rationalen Agenten sind“ (S. 413). „Die empirischen Befunde erschüttern die Annahme, Menschen hätten konstante Präferenzen und wüssten, wie sie deren Nutzwert maximieren können, was ein Eckpfeiler des Modells vom rationalen Agenten ist“ (S. 474). Mit dem Problem adaptiver, von Referenzpunkten abhängiger und durch Endowment oder Framing Effekte beeinflusster Präferenzen setzt sich jüngst auch Carl Christian von Weizsäcker auseinander (2011, "Homo Oeconomicus Adaptivus. Die Logik des Handelns bei veränderlichen Präferenzen")
Für die ökonomische Bildung hat dies gravierende Folgen, da rein ökonomische Modelle rationalen Entscheidens dann auf der individuellen Ebene und für eine Bildung, die für Orientierung in der realen Welt sorgen will, ein wenig relevanter Spezialfall sind. Eine sozio-ökonomische Bildung geht von der Einbettung ökonomischer Entscheidungen in soziale Kontexte als Normalfall aus. Die Bildung von Präferenzen, die die ökonomische Theorie ausblendet, rückt sie in den Mittelpunkt von Lernprozessen, die auf eine größere Selbsterkenntnis, Selbstverfügung und Selbstwirksamkeit der Subjekte zielen. Die Bildung geht dann von den Bedürfnissen der Lernenden aus, nicht von den vorgegebenen Angeboten der ökonomischen Theorie.
Libertärer Paternalismus
Auch für die politische Bildung haben die empirischen Erkenntnisse über menschliches Denken gravierende Folgen. Kahneman plädiert nämlich in bestimmten Fällen für einen libertären Paternalismus im Sinne von Richard Thaler und Cass Sunstein (als pdf online: "Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron", 2003), denn auch „wenn Humans nicht irrational sind, brauchen sie oft Hilfe, um zu zutreffenderen Urteilen und besseren Entscheidungen zu gelangen, und in manchen Fällen können politische Maßnahmen und Institutionen diese Hilfe bieten“ (S. 509).
Kahnemans Rätsel für die ökonomische Bildung
Kahneman behauptet, seine Forschungsergebnisse "stellen eine große Herausforderung für die Rationalitätsannahme dar, wie sie in der herrschenden volkswirtschaftlichen Lehre vertreten wird" (S. 27). Für eine pluralistische sozio-ökonomische Bildung ist diese Herausforderung kein Problem, da unterschiedliche Zugänge zur Rationalitätsfrage (einschließlich des homo oeconomicus-Modells) für sie selbstverständlich sind, der orthodoxen ökonomischen Bildung dagegen steht ihre einseitige paradigmatische Fixierung im Weg.
Rationalistische Bildung und Verhaltensökonomik
Denn der rationalistische Mainstream der ökonomischen Bildung ruht auf zwei Grundpfeilern: der Promotion des Modells des rationalen ökonomischen Akteurs (homo oeconomicus und seine Varianten) und der praktischen Erziehung zu rationalem ökonomischen Entscheiden und Handeln. Damit baut sich diese fachdidaktische Strömung eine paradoxe Basis: Sie setzt das theoretisch als immer schon natürlich gegeben voraus, zu dem sie praktisch erst erziehen will.
Zugleich ignoriert diese rationalistische Wirtschaftsdidaktik die empirisch robust belegte Grundeinsicht der Kahnemanschen Verhaltensökonomik: dass „das intuitive System 1 [schnelle, unbewusste mentale Prozesse; RH] einflussreicher ist, als dies nach unserem subjektiven Erleben der Fall zu sein scheint“ und „der geheime Urheber vieler Entscheidungen und Urteile, die wir treffen“, ist (Kahneman, S. 25).
Damit führt sie die Subjekte, die herausfinden wollen, wie sie selbst als Konsumentin, zukünftige Berufstätige oder Studierende, Arbeitnehmerin, Anlegerin, Unternehmerin usw. agieren, systematisch in die Irre. Sie liefert ihnen schlicht ein falsches, weil rationalistisch überhöhtes Selbstbild, das ausschließlich aus Kahnemans System 2 besteht. Wir werden sehen, dass dieses Bild für die Subjekte nicht nur falsch, sondern auch gefährlich ist.
Ob dies auch Konsequenzen für allgemeine Prognosen der ökonomischen Theorie haben sollte oder nicht, kann hier offen bleiben (vgl. Kahneman, S. 352, der diesen bescheinigt, dass sie „in manchen Situationen sehr präzise gelingen und in vielen anderen gute Näherungen liefern“).
System 1 und System 2: impulsiv und intuitiv vs. bedächtig und logisch
Kahneman legt seinem Buch in didaktischer Absicht eine grundlegende Unterscheidung von mentalen Prozessen zu Grunde, die er metaphorisch als zwei Agenten fasst und System 1 und System 2 nennt, die jeweils schnelles und langsames Denken oder intuitives und bewusstes Denken erzeugen (S. 25).
System 1 und 2 verwendet er als Synonyme für automatisches System und willentliches System (S. 44). „System 1 ist impulsiv und intuitiv; System 2 kann logisch denken, und es ist bedächtig, aber zumindest bei einigen Menschen ist es auch faul.“ (S. 67)
„System 1 liefert die Eindrücke, die oftmals zu unseren Überzeugungen werden, und es ist die Quelle der Impulse, die häufig unsere Entscheidungen und Handlungen bestimmen. Es stellt eine implizite Interpretation dessen bereit, was uns widerfährt und was um uns herum geschieht, wobei es die Gegenwart mit der jüngsten Vergangenheit und Erwartungen über die nahe Zukunft verknüpft. Es enthält das Weltmodell, das Ereignisse sofort als normal oder überraschend bewertet. Es ist die Quelle unserer raschen und oftmals präzisen intuitiven Urteile. Und das meiste davon tut es, ohne dass wir uns seiner Aktivitäten bewusst werden (…) System 1 [ist] auch der Ursprung vieler der systematischen Fehler in unseren Intuitionen.“ (S. 79).
Bildung hilft nicht, Finanzbildung auch nicht
Da sieht die Fachdidaktikerin natürlich ihre Chance und bringt ihr Standardargument: Hier muss Bildung ansetzen und helfen, dass die Lernenden ihre mental fest eingebauten, systematischen Fehler erleben, erklären und zukünftig durch Bewusstmachen vermeiden.
Aber die empirische Forschung macht nur wenig Hoffnung, dass das funktionieren könnte, und Kahneman bekennt freimütig: „Grundsätzlich bin ich nicht optimistisch, was unsere Fähigkeit zur Kontrolle von Verzerrungen anbelangt“ – von wenigen Ausnahmen abgesehen (S. 166).
Bildung kann das Problem der kognitiven Verzerrungen sogar noch verschärfen. Sollen Probandinnen die Größen von Phänomenen oder Häufigkeiten von Ereignissen abschätzen, berichten sie stattdessen meist, wie leicht ihnen Beispiele dafür eingefallen sind (Abrufleichtigkeit; Kahneman S. 165-171). Damit ersetzen sie die eigentliche Frage durch die Frage nach der gegenwärtigen Verfügbarkeit von Beispielen (Verfügbarkeitsheuristik), beschränken sich also auf ihr System 1 und erzeugen so unvermeidlich systematische Fehler. Durch eine stärkere Inanspruchnahme von System 2 kann die Abrufleichtigkeit durch einen stärker inhaltlichen Fokus ersetzt werden.
Das ist für die ökonomische Bildung durchaus von Bedeutung, denken wir etwa an die Finanzbildung. Denn ausgerechnet die, die „sachkundige Neulinge bei dem Thema der [jeweiligen, RH] Aufgabe sind, im Unterschied zu wahren Experten“, lassen sich eher von System 1 lenken, mehr von der Abrufleichtigkeit als von dem abgerufenen Inhalt beeinflussen und schwimmen so einfach mit dem Strom (S. 171 f.). Der sachkundige Neuling ist aber das höchste Niveau, was schulische finanzielle Allgemeinbildung unter den besten Umständen im Einzelfall vielleicht erreichen kann, sie erhöht also die Risiken für das Individuum.
Wertpapiere: Kompetenzillusion als Branchenphilosophie und Bildungseffekt
Die üblichen Ansätze der – meist zwangsweise verabreichten – Finanzbildung schicken die hoffnungsfrohen jugendlichen Anlegerinnen in ein totes Rennen mit garantierter Vermögensvernichtung; das zeigt der kalte statistische Blick auf den Erfolg professioneller Vermögensmanager (vgl. Kahneman, S. 263-273).
Kahneman steht vor „einem größeren Rätsel“ und meint, eine „bedeutende Branche scheint weitgehend auf einer ‚Kompetenzillusion‘ (illusion of skill) zu basieren“ (S. 263). „Die Frage ist, wieso Käufer und Verkäufer gleichermaßen der Ansicht sind, der gegenwärtige Preis sei unangemessen. Was lässt sie glauben, den angemessenen Preis besser als der Markt zu wissen? Für die meisten von ihnen ist diese Überzeugung eine Illusion.“ (S. 264) Statistisch steht fest, „dass es für die große Mehrheit der einzelnen Investoren besser gewesen wäre, wenn sie gar nichts unternommen hätten, als ihren Erwartungen zu folgen“ (S. 265).
Zwar reagieren professionelle Investoren und Fondsmanager selektiver, aber auch sie „lassen ein elementares Zeichen für Kompetenz vermissen: anhaltenden Erfolg. Das Diagnosekriterium für Kompetenz ist die Konsistenz individueller Leistungsunterschiede.“ (S. 265 f.). Die aber, so Kahneman, lassen sich nicht erkennen:
Gut gewürfelt oder kühl kalkuliert?
„(..) ist die Datenlage nach über fünfzigjähriger Forschung eindeutig: Bei der großen Mehrheit der Fondsmanager gleicht die Auswahl von Einzeltiteln eher einem Würfel- als einem Pokerspiel. Im Allgemeinen ist die Wertentwicklung bei zwei von drei Investmentfonds in jedem beliebigen Jahr schlechter als die des Gesamtmarktes. (…) Die erfolgreichen Fonds in jedem beliebigen Jahr haben einfach das meiste Glück; sie haben gut gewürfelt. (…) Wertpapierhändler haben subjektiv das Gefühl, in einer Situation großer Ungewissheit rationale, wohl begründete Vermutungen anzustellen. In hoch effizienten Märkten aber sind auch fundierte Vermutungen nicht treffgenauer als blinde Vermutungen.“ (S. 266).
Auch die Vorhersagen der Finanzvorstände von Großunternehmen über die Renditeentwicklung eines Aktienindex im folgenden Jahr waren äußerst schwach, „die Korrelation zwischen ihren Schätzungen dem tatsächlichen Wert lag knapp unter null! Wenn sie sinkende Kurse vorhersagten, stiegen diese tatsächlich tendenziell eher an. Diese Ergebnisse sind nicht überraschend. Die eigentlich schlechte Nachricht ist, dass die Finanzvorstände anscheinend nicht wussten, dass ihre Vorhersagen wertlos sind (Kahneman, S. 323).
Kahneman erklärt dies u.a. damit, dass das Eingeständnis der (notwendigen, in der Sache selbst liegenden) Unkenntnis, etwa indem man bei Schätzungen breite Konfidenzintervalle angibt, „für jemanden, der dafür bezahlt wird, sich in finanziellen Angelegenheiten gut auszukennen, gesellschaftlich nicht annehmbar ist“ (S. 324) – soziologisch wenig überraschend.
Erfolgsprämien auf Glück, Kultur der Auserwählten
Ähnliche Ergebnisse brachten auch Kahnemans Korrelationsanalysen zwischen den jährlichen Anlageerfolgen von Anlageberatern: „Die Ergebnisse glichen dem, was man bei einem Würfelspiel, nicht beim Geschicklichkeitsspiel erwarten würde.“ (S. 267). Die Prämien, die die Berater von ihrem Arbeitgeber erhielten, belohnten „bloßes Glück so, als wäre es Können“ (ebd.). Das Vermögensberatungsunternehmen änderte daraufhin – nichts! Kahneman versucht das systematisch zu erklären:
„Die Kompetenzillusion ist nicht nur ein individueller Urteilsfehler; sie ist tief in der Kultur der Wirtschaft verwurzelt. Tatsachen, die Grundannahmen infrage stellen – und dadurch das Auskommen und die Selbstachtung von Menschen bedrohen –, werden einfach ausgeblendet. Unsere Psyche verarbeitet sie nicht.“ (S. 267).
Hinzu kommt die professionelle Kultur in einer Branche, denn die „Illusionen der Gültigkeit und Kompetenz [werden, RH] von einer mächtigen Berufskultur gestützt. (…) Angesichts der Berufskultur im Finanzdienstleistungssektor ist es nicht verwunderlich, dass sehr viele Personen in diesem Sektor sich zu den wenigen Auserwählten zählen, die ihres Erachtens etwas können, was andere nicht können.“ (S. 269)
Rationalität und Effizienz als Hypothese, nicht als Annahme
Eine sozio-ökonomische Bildung, die sich der kulturellen Einbettung wirtschaftlicher Phänomene und Handlungsweisen immer schon bewusst war, überrascht das nicht. Kultur gehört zu ihrem Standardrepertoire an ökonomischen Erklärungen. Damit bietet sie den Lernenden auch einen kritischen Zugang: Rationalität und Effizienz setzt sie nicht vorab als Annahme, sondern als empirisch zu überprüfende Hypothesen.
Eine rationalistische ökonomische Bildung, die an die Rationalität der Handelnden und die Effizienz von Märkten und Unternehmen glaubt und nur ein Erklärungsmuster kennt, hat hier dagegen wenig zu bieten. MIt ihrem Begriff von Rationalität ist sie nicht anschlussfähig an Kahnemans Verhaltensökonomik, der System 2 nicht als "rational" auszeichnet, sondern als bewusstes, willentliches oder nachdenkendes System sieht (vgl. auch Amitai Etzioni, 2011, "Behavioural Economics. Next Steps", in: Journal of Consumer Policy, 277-287).
Etzioni schlägt deshalb mit Blick auf die Experimentalergebnisse der Verhaltensökonomik vor, Rationalität nicht als dichotomische, sondern als kontinuierliche Variable zu fassen, und hofft dann doch auf gewisse Verbesserungsmöglichkeiten durch Bildung, Technik, Training, Werte und Selbstkontrolle (Etzioni, "Behavioral Economics. Toward a New Paradigm", in: American Behavioral Scientist, 2011, Nr. 8, 1099-1119, hier 1110).
Rationale Selbstverklärung
In unserem Selbstbild verdrängen wir den großen Einfluss, den unser System 1 auf uns ausübt, verklären uns als uneingeschränkte Herrin unseres Denkens, Entscheidens und Handelns, erklären uns also praktisch zur Inkarnation des selbstgesteuerten homo oeconomicus. Kahneman beschreibt System 2 so:
„Das aufmerksamkeitsgesteuerte System 2 ist das, was wir als unser bewusstes Selbst betrachten. System 2 äußert Urteil und trifft Entscheidungen, aber unterstützt oder rationalisiert oftmals Vorstellungen und Gefühle, die von System 1 erzeugt wurden. Sie mögen nicht wissen, dass Sie ein Projekt optimistisch einschätzen, weil etwas an dessen Leiterin Sie an Ihre geliebte Schwester erinnert, oder dass Sie eine Person unsympathisch finden, die entfernt Ihrem Zahnarzt ähnlich sieht. Doch wenn man Sie nach einer Erklärung fragt, werden Sie Ihr Gedächtnis nach plausiblen Gründen durchforsten und mit Sicherheit einige finden. Außerdem werden Sie die Geschichte glauben, die Sie erfunden haben. Aber System 2 ist nicht nur Verteidiger von System 1; es verhindert auch, dass viele verrückte Gedanken und nicht situationsadäquate Impulse offen zum Ausdruck gebracht werden. Die Investitionen von Aufmerksamkeit verbessert die Leistung bei zahlreichen Aktivitäten (…) und ist bei einigen Aufgaben wie etwa Vergleichen, Entscheiden und geordnetem Denken unverzichtbar. Aber System 2 ist kein Inbegriff von Rationalität. Seine Fähigkeiten sind begrenzt, und das gleiche gilt für das Wissen, zu dem es Zugang hat. Wir denken nicht immer streng logisch, wenn wir nachdenken, und die Fehler sind nicht immer falsche Intuitionen zurückzuführen, die sich von selbst aufdrängen. Oft machen wir Fehler, weil wir (unser System 2) es nicht besser wissen.“ (Kahneman, S. 514).
Unbewusste Routinesteuerung und assoziatives Weltmodell
Man kann sehen, dass der – fachwissenschaftliche und fachdidaktische – Schritt von der Annahme uneingeschränkter Rationalität hin zu begrenzter Rationalität (also die realistische Binnenrevision des Bildes von System 2) nur ein kleiner Fortschritt ist angesichts der noch bevorstehenden Aufgabe, System 1 im ökonomischen Denken und Handeln den großen Raum einzuräumen, der ihm empirisch zusteht.
„Tatsächlich hat ein Großteil dessen, was wir falsch machen, seinen Ursprung im System 1, aber System 1 ist auch der Ursprung der meisten Dinge, die wir richtig machen - und das ist das meiste dessen, was wir tun. Unsere Gedanken und Handlungen werden routinemäßig von System 1 gesteuert, und sie liegen im Allgemeinen richtig. Eine Glanzleistung ist das differenzierte und detaillierte Modell unserer Welt, das im assoziativen Gedächtnis abgespeichert ist“ (Kahnemann, S. 514 f.).
„Im Gedächtnis ist auch das gewaltige Repertoire an Fähigkeiten gespeichert, die wir in lebenslanger Übung erworben haben und die automatisch geeignete Lösungen für unvermittelt auftretende Herausforderungen generieren. (S. 515).
System 2 ist eine bewusste, langsame, wohlüberlegte und anstrengende Form des Denkens (Kahneman, S. 25). Die rationale Wahlhandlung der ökonomischen Verhaltenstheorie ist dagegen eine Extremform, die auch in System 2 nur eher selten vorkommt.
Nicht-rationale Wahl als Standardmodus
Deshalb fasst Etzioni seine Quintessenz aus verhaltensökonomischen, psychologischen und soziologischen empirischen Forschungsarbeiten als ein gut begründetes neues Paradigma wie folgt zusammen (2011, "Behavioral Economics. Toward a New Paradigm", a.a.0., 1114):
(a) Wahl beruht meist nicht auf irgendwelchen Überlegungen. (b) Wenn Denken vorkommt, unterliegt es oft den kognitiven Verzerrungen, die die Verhaltensökonomik systematisch beobachtet und berichtet. (d) Sowohl intuitive (oder gedankenlose) Wahl als auch die, die abhängig von Überlegungen ist, sind tief durch Emotionen und Normen beeinflusst, die ihrerseits von sozialen und kulturellen Faktoren abhängen.
Deshalb, so Etzioni, nimmt ein solides Paradigma für die Erforschung von Wahlverhalten an, dass Menschen oft Wahlen treffen, die weit vom Rationalen entfernt sind, und nicht einfach nur begrenzt rational. Der paradigmatische Standardmodus sei deshalb die nicht-rationale Wahl.
Von diesem Referenzrahmen für mikroökonomische Studien aus könne man dann nach den Bedingungen fragen, unter denen die Wahl relativ stärker von Evidenz und logischen Überlegungen getrieben wird, ohne jedoch anzunehmen, dass Menschen in nicht-trivialen Angelegenheiten optimale, also voll-rationale Entscheidungen treffen könnten.
Kulturelle Aufwertung von Rationalität
Eine interessante, gesellschaftstheoretisch, zeithistorisch und empirisch fundierte Gegenposition dazu vertritt der Soziologe Uwe Schimank. Er unterstreicht einerseits ganz im Sinne von Etzioni und der Verhaltensökonomik, dass die Akteure über "äußerst begrenzte Fähigkeiten zu entscheidungsförmigem Handeln" verfügen ("Handeln und Strukturen", Weinheim u.a., 2000, S. 165; Inhaltsverzeichnis als pdf).
Da sich aber andererseits etwa durch die zunehmende Verbreitung von Konkurrenzbeziehungen in der Gesellschaft oder eine "kulturelle Aufwertung von Rationalität" "ein am Eigennutz orientierter Homo Oeconomicus in der modernen Gesellschaft breitmacht", "kann man diesem Akteurmodell heute einen theoretischen Primat zusprechen", heute, d. h. in der modernen Gesellschaft (S. 165). Denn deren Ökonomisierung bringt immer mehr homo-oeconomicus-förmiges Verhalten und Handeln hervor.
Das multiple self
Der Homo sociologicus aber sorgt für die Orientierung in der funktional differenzierten Gesellschaft, erkennt die kulturellen Leitideen der Teilsysteme, weiß, in welchem System er sich gerade befindet, vermittelt die nötige Erwartungssicherheit und die spezifischen Rollenmuster und Rollenmöglichkeiten - und erst dann kann man am jeweiligen gesellschaftlichen Ort auch nutzenorientiert handeln.
Der Homo sociologicus, so Schimank im Anschluss an Jon Elster und Helmut Wiesenthal, porträtiert "jeden Menschen als gut sortiertes 'multiple self'", das in den gesellschaftlichen Teilsystemen je angemessen, und das heißt: unterschiedlich aufzutreten weiß ("Wie sich funktionale Differenzierung reproduziert - eine akteurtheoretische Erklärung", pdf, in: Hill, Paul, u.a., Hg., Hartmut Essers erklärende Soziologie, Frankfurt/M., 201-226, hier 210-213).
Die Selbstökonomisierung kritisch reflektieren
Vor diesem Hintergrund muss sich die ökonomische Bildung fragen, wie damit umgehen will, dass die Lernenden einerseits für den Homo oeconomicus kognitiv strukturell inkompetent sind, andererseits aber unter dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck stehen, sich zunehmend wie ein Homo oeconomicus zu verhalten, diesen aber gewissermaßen nur simulieren können.
Eine sozio-ökonomische Bildung lehnt es ab, den Selbstökonomisierungsdruck durch normative und pragmatische Ausrichtung auf individuelle Rechenhaftigkeit noch zu verstärken, und leitet die Lernenden an, die eigenen wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und -zwänge im gesellschaftlichen Kontext kritisch zu reflektieren und nicht im luftleeren Raum des ökonomischen Kalküls.
Eher glauben als zweifeln: Kognitive Verzerrung
Verglichen mit dem verhaltensökonomischen Paradigma der Nicht-rationalen Wahl und der dahinter stehenden überwältigenden empirischen Evidenz vermittelt die rationalistische ökonomische Bildung ein falsches Selbstbild an die Lernenden und verstärkt so die fatale "Tendenz, eher zu glauben als zu zweifeln" (S. 144). Sie setzt ein einzelnes Paradigma, die ökonomische Verhaltenstheorie samt homo oeconomicus-Modell, als einziges absolut, ohne es im Unterricht dem systematischen Zweifel und dem kritischen Vergleich mit anderen Paradigmen auszusetzen.
Damit fördert sie den eher trägen menschlichen Grundmodus, der nicht anfällig ist für Zweifel, denn "es ist anstrengender, Zweifel aufrechtzuerhalten, als in Gewissheit zu verfallen" (Kahneman, S. 145).
Aber genau das ist das Ziel orthodoxer ökonomischer Bildung: Gewissheit zu vermitteln, dass die "ökonomische Weltsicht" die richtige ist. Da die ökonomische Verhaltenstheorie beansprucht, universal zu gelten und im Grundsatz alles ökonomisch erklären zu können, und so in die Schule transportiert wird, ohne einen Vergleich mit anderen Weltsichten vorzusehen, fördert sie eine allgemeine kognitive Verzerrung: "Wir neigen dazu, die Konsistenz und Kohärenz dessen, was wir sehen, zu überzeichnen" (Kahneman, S. 146).
Verstärkung der Musterillusion statt Anerkennung der Zufälligkeit
Unglücklicherweise fördert die einseitige Ausrichtung auf die ökonomische Verhaltenstheorie tendenziell auch die irreführende "Neigung zu kausalem Denken", die uns "anfällig für gravierende Fehler bei der Beurteilung der Zufälligkeit echter Zufallsereignisse" macht (Kahneman, S. 146). Die einseitige und scheinbar alternativlose Mustererklärung der ökonomischen Verhaltenstheorie, die den Lernenden als überall und auf alles anzuwenden vorgestellt wird, trägt zur Verstärkung des gut belegten systematischen Fehlers bei, dass "wir Muster erkennen, wo gar keine vorhanden sind" (S. 147). Alle Phänomene werden so auf mehr oder weniger rational kalkulierte individuelle Entscheidungen zurückgeführt. Das fördert auch die Rationalitätsillusion der Lernenden.
"Diese Musterillusion wirkt sich (…) in vielfältiger Weise auf unser Leben aus. Wie viele gute Jahre sollte man warten, bis man den Schluss zieht, dass ein Vermögensberater ungewöhnlich tüchtig ist? Wie viele erfolgreiche Zukäufe sind nötig, damit ein Verwaltungsrat den sachlich begründeten Schluss ziehen kann, dass der Vorstandschef eine außergewöhnliche Begabung für solche Übernahmen hat? Die einfache Antwort auf diese Frage lautet, dass man, wenn man sich auf seine Intuition verlässt, häufig irrt, in dem man ein Zufallsereignis als ein systematisches fehlinterpretiert. Wir lehnen nur allzu bereitwillig die Ansicht ab, dass ein Großteil dessen, was wir im Leben sehen, Zufallscharakter hat" (Kahneman, S. 149).
Managementerfolg oder Zufallstreffer?
Managementphilosophien und Entrepreneurship Education haben eine Gemeinsamkeit darin, dass sie fest daran glauben und glauben machen, unternehmerischer Erfolg sei machbar. Das ist ein Irrglaube, der natürlich Unternehmerinnen (und Unternehmerverbänden) gut gefällt, können sie den Unternehmenserfolg doch sich selbst zurechnen. Einer Wirtschaftspolitik, die das Unternehmertum fördern will, kommt diese Illusion auch gut zupass, motiviert sie doch dazu, unternehmerisch tätig zu werden.
Eine gegenüber den Subjekten, nicht gegenüber den Verbänden und Ministerien verantwortungsvolle ökonomische Bildung kann dagegen nicht oft genug diesen Typ der Erfolgsillusion thematisieren. Leider wirkt die rationalistische Wirtschaftsdidaktik in die Gegenrichtung.
Selbstverständlich beeinflussen auch Unternehmensleiterinnen den Erfolg des Unternehmens, aber ihr Einfluss ist viel geringer als üblicherweise angenommen (Kahneman, S. 254). Zur systematischen Überschätzung der Steuerbarkeit des Unternehmenserfolgs und der Erfolgsrelevanz des Handelns der Führungskräfte trägt der Halo-Effekt wesentlich bei. Er bezeichnet die kognitive Verzerrung durch die Tendenz, an einer Person alles zu mögen (oder nicht zu mögen), also durch den Versuch von System 1, seine Repräsentation der Welt einfacher und kohärenter zu machen, als die Wirklichkeit ist (Kahneman, S. 108). Tatsächlich aber, so Kahneman, regiert oft der Zufall:
Glück unterscheidet Erfolg von Misserfolg bei Unternehmen
Der Vergleich von Firmen, die mehr oder weniger erfolgreich sind, ist in einem erheblichen Ausmaß ein Vergleich zwischen Firmen, die mehr oder minder viel Glück hatten. Wenn man weiß, wie wichtig der Faktor Glück ist, sollte man besonders argwöhnisch sein, wenn aus dem Vergleich von erfolgreichen und weniger erfolgreichen Firmen hochkonsistente Muster hervorgehen. Wenn der Zufall seine Hand im Spiel hat, können regelmäßige Muster nur Illusionen sein. Weil Glück eine so große Rolle spielt, lassen sich aus empirischen Erfolgsdaten keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Qualität des Führungsteams und der Managementpraktiken ziehen.“ (Kahneman, S. 257). Die Kluft zwischen den Erfolgreichen und den Schwachen entsteht vielmehr wesentlich durch Zufall und ebnet sich im Zeitverlauf wieder ein (Regression zum Mittelwert).
Selbstüberschätzung als Managementprinzip
Leider denken die meisten Menschen, sie seien in Sachen positive Persönlichkeitseigenschaften der Mehrheit der Menschheit überlegen; dies denken bedauerlicherweise erst recht die Manager großer Unternehmen, denn damit bringen sie sie über den Markt in große Risiken (Kahneman, S. 318). „Die Chefs großer Unternehmen schließen manchmal gewaltige Wetten auf teure Fusionen und Akquisitionen ab, wobei sie von der falschen Annahme ausgehen, sie könnten die Vermögenswerte eines anderen Unternehmens besser nutzen als dessen gegenwärtige Eigentümer“ (S. 318).
Erfahrungsgemäß scheitert aber der weitaus größte Teil solcher Aktionen, die „Führungskräfte der übernehmenden Gesellschaft sind schlichtweg weniger kompetent, sie zu sein glauben“ (ebd.). Wir kennen diesen Above-Average-Effekt recht gut von der Selbsteinschätzung als überdurchschnittlich gute Autofahrerin (vgl. S. 321). Parallel dazu finden viele Konsumentinnen, dass Werbung wirkt, aber nicht auf sie; solche Selbstüberschätzungen werden von einer rationalistischen ökonomischen Bildung eher gestützt als kritisch reflektiert. Dagegen macht eine an Selbstaufklärung der Lernenden interessierte sozio-ökonomische Bildung dies zum Gegenstand methodisch angeleiteter Beobachtung und Kritik.
Manipulation durch Priming auf einseitige Weltsicht
Die einseitige Festlegung der Lernenden auf die Weltsicht der ökonomischen Verhaltenstheorie bewirkt im Übrigen einen klassischen Priming-Effekt (Kahneman spricht von der "Assoziationsmaschine", S. 69), zu dem die Lernenden keinen bewussten Zugang haben, der sie deshalb also in diesem Sinne manipuliert. Den Lernenden werden Vorstellungen von "rational" und "Handeln" vorgegeben, die ihre Vorstellungen von sich selbst und der wirtschaftlichen Welt, in der sie sich bewegen, "bahnen" und in der Folge auch ihr Verhalten ändern (vgl. zum Priming allgemein Kahneman, S. 72-79).
Priming-Effekte finden sich in allen Lebensbereichen. Mit Bezug auf ein Experiment betont Kahneman: "Wechselseitige Priming-Effekte erzeugen eine kohärente Reaktion: wenn man geprimt wurde, an hohes Alter zu denken, neigt man zu seniorentypischem Verhalten, und wenn man sich wie ein älterer Mensch verhält, verstärkt dies den Gedanken an hohes Alter" (S. 74).
Ökonomische Bildung als einseitiges Priming?
Es gibt wenig Grund anzunehmen, für das rationale ökonomische Kalkül und die ökonomische Verhaltenstheorie gelte dies nicht. Die einseitige Bevorzugung dieser Theorie im Unterricht kann durchaus Priming-Effekte erzielen, die Züge einer von den Anhängern sicher begrüßten, wenn nicht sogar beabsichtigten self-fulfilling prophecy annehmen können. Suggestion tritt an die Stelle kritischer Prüfung. Denn Anker – z.B. die Einführung eines bestimmten Werts als Verankerung einer Größenordnung für eine unbekannte Größe, bevor die Probanden diese Größe abzuschätzen haben, z.B. Prozentsätze oder Spendenbeträge – bewirken der Suggestion ähnliche Prozesse, denn „System 1 tut sein Bestes, um eine Welt zu konstruieren, in welcher der Anker die richtige Zahl ist“ (S. 156, 152).
Eine „zentrale Erkenntnis der Ankerforschung besteht darin, dass offenkundig willkürlich festgesetzte Anker genauso wirksam sein können wir potenziell informative“, was die verstörende Einsicht mit sich bringt, dass die „Effekte von Ankern nicht darauf zurückzuführen [sind], dass Menschen sie für informativ halten“ (S. 159). Dagegen lassen sich, etwa bei Verhandlungen, bewusste Strategien anwenden wie etwa die, in seinem Gedächtnis nach Argumenten gegen einen gesetzten Anker zu suchen (S. 161).
Auch das ist fachdidaktisch und pädagogisch fatal, da es das "Selbstbild, bewusste und autonome Urheber unserer Urteile und Entscheidungen zu sein" (Kahneman, S. 75), nicht etwa auf der Basis einer Vielzahl empirischer Befunde aus vielen Disziplinen in Frage stellt, sondern gegen den Stand der Wissenschaft noch bestärkt. Das widerspricht nicht nur dem Prinzip der Wissenschaftsorientierung, sondern auch der pädagogischen Pflicht, die ökonomische Selbstaufklärung der Subjekte im Bildungsprozess zu fördern statt zu behindern. 
Priming auf Geld macht egoistischer: Manche, viele, alle?
Ambivalente und verstörende Experimentalergebnisse berichtet Kahneman über das Priming auf Geld; dem Modell des homo-oeconomicus und dem Denkmuster der ökonomischen Verhaltenstheorie ist ein Priming auf Geld inhärent, da die dort bevorzugte "ökonomisch" rationale Kalkulation anders gar nicht möglich ist. Das zieht bisher verborgene Verhaltenseffekte nach sich, die fachdidaktisch kritisch zu diskutieren sind. Denn:
"Auf Geld geprimte Personen werden unabhängiger, als sie es ohne den assoziativen Auslöser wären. (…) Auf Geld geprimte Menschen sind auch egoistischer (…) Auf Geld geprimte Studenten zeigten auch eine größere Präferenz fürs Alleinsein.
Der gemeinsame Nenner dieser Befunde besteht darin, dass die Idee des Geldes den Individualismus stärkt: das Widerstreben, sich mit anderen einzulassen, von anderen abhängig zu sein oder Forderungen von anderen anzunehmen“ (Kahneman, S. 75 f.). Forschungsergebnisse von Kathleen Vohs [als pdf online: Vohs et al., The Psychological Consequences of Money, in: Science 314 (2006), 1154-1156] „deuten darauf hin, dass das Leben einer Kultur, die uns ständig an das Thema Geld erinnert, unser Verhalten und unsere Einstellungen womöglich in Weisen beeinflusst, von denen wir nichts wissen und auf die wir nicht stolz sein mögen." (Kahneman, S. 76).
Allerdings gilt, dass die Auswirkungen der Beeinflussung durch Primes "durchgängig nachweisbar, aber nicht unbedingt groß" sind (S. 77). Kahneman mahnt: "Priming-Phänomene entstehen in System 1, und Sie haben keinen bewussten Zugang dazu" (S. 78). Denn „Ihr subjektives Erleben besteht größtenteils aus der Geschichte, die sich Ihr System 2 selbst über das erzählt, was vor sich geht." (S. 77).
Revolutionär und im Kern traditionell: Schwächen in Kahnemans Ansatz
Mindestens in vier Hinsichten bleibt Kahnemans Denken aus meiner Sicht unbefriedigend (zur kritischen Diskussion über die Leistungen und Zukunftsaussichten der Verhaltensökonomik vgl. "Discussion Forum II: Behavioural economics" der Socio-Economic Review, 2010, 377-397, mit Beiträgen von Amitai Etzioni, Michael J. Piore und Wolfgang Streeck).
Erstens hält er an der Norm der Optimierung von Wahlentscheidungen fest, wenngleich er ihre Umsetzungschancen überwiegend skeptisch beurteilt.
Indem er falsche Gewissheiten des ökonomischen Mainstreams über rationales Handeln empirisch erschüttert und systematische Irrtümer und Fehlentscheidungen aufdeckt, glaubt er (überwiegend) an die Notwendigkeit, aber recht eingeschränkte Möglichkeit, die Qualität von Entscheidungen dadurch zu optimieren, dass eingebaute Nicht-Rationalitäten bewusst und berücksichtigt werden. Diese Einschätzung verbindet ihn mit Sozioökonomen wie Amitai Etzioni (s. o.).
Zweitens gründet ein großer Teil seiner Ergebnisse über Entscheidungen auf Settings, in denen zwischen mit Wahrscheinlichkeiten ausgezeichneten (oder auszuzeichnenden) Alternativen zu wählen ist. Dabei gerät das größte und in vielen Situationen: typische Problem wirtschaftlicher Entscheidungen, die Konfrontation mit Knightscher Ungewissheit, die nicht in die Form des Risikos transformierbar sind, da man keinerlei Wahrscheinlichkeiten kalkulieren kann, zu stark in den Hintergrund (klassischer Text von Frank H. Knight, 1921, "Risk, Uncertainty, and Profit" (über Library of Economics and Liberty).
Unüberwindbare Ungewissheit
Allerdings spricht Kahneman die unüberwindbare Ungewissheit mehrfach an, z. B. im Kontext mit Anlageentscheidungen. In Situationen der Ungewissheit versagt das rationale ökonomische Kalkül samt Streben nach Effizienz nicht an kognitiver Unzulänglichkeit, sondern an objektiver Unmöglichkeit (vgl. dazu inzwischen klassisch, als pdf online: Jens Beckert, 1996, "Was ist soziologisch an der Wirtschaftssoziologie? Ungewissheit und die Einbettung wirtschaftlichen Handelns").
Hier kommen soziale Mechanismen ins Spiel, mit denen Akteure versuchen, Ungewissheit zu bändigen und zu bewältigen, etwa durch die Herausbildung von Traditionen, Gewohnheiten und Routinen oder Normen, Institutionen und Konventionen (vgl. zur soziologischen Erklärung der Preisbildung, als pdf online: Jens Beckert, 2011, "Where do prices come from? Sociological approaches to price formation"). Solche Situationen sind im wirtschaftlichen Alltag von Jugendlichen durchaus verbreitet, insbesondere wenn es um folgenreiche Entscheidungen geht, etwa welchen Ausbildungsberuf man anstreben soll.
Ökonomisches Handeln: Individuelles oder soziales Handeln?
Vor diesem Hintergrund zeigt sich die dritte Schwäche des Ansatzes: Kahneman hält an der Vorstellung von ökonomischem Handeln als individuellem Handeln fest, während es tatsächlich soziales Handeln ist; das lässt sich aber mittels meist individualpsychologisch inspirierten und sorgfältig von sozialen Beziehungen und Wechselwirkungen bereinigten Experimentalsettings mit kleinen Zahlen von Probandinnen nur schwierig, wenn überhaupt auffinden (vgl. Wolfgang Streeck, 2010, a.a.0., 391). Kahneman und die Verhaltensökonomik verstehen ökonomisches Handeln aus der Individualpsychologie heraus und führen es letztlich auf biologische Eigenschaften des menschlischen Gehirns zurück (vgl. Michael J. Piore, 2010, a.a.0., 385).
Damit hält man ökonomisches Handeln systematisch aus den Sozialwissenschaften heraus, was sich auch daran zeigt, dass politikwissenschaftliche und soziologische Erkenntnisse keinerlei Rolle spielen (vgl. zu ökonomischem als sozialem Handeln z.B. Mark Granovetter, "Ökonomisches Handeln und soziale Struktur: Das Problem der Einbettung", in: Müller, Hans-Peter u.a., Zeitgenössische amerikanische Soziologie, Opladen 2000, 175-207; englisch, 1985, "Economic Action and Social Structure" als pdf online; mit direktem Bezug auf die Verhaltensökonomik: Martin Schröder, "Vom Experiment zur Praxis. Wie moralische Argumente wirtschaftliche Selbstinteressen beeinflussen", KZfSS, 2011, 61-81, als pdf oline).
Dieses Festhalten an Grundlinien des methodologischen Individualismus zeigt sich auch, wenn man das Verhältnis von Psychologie und Ökonomik betrachtet (z.B. bei Bruno S. Frey u.a., 2001, "Ökonomie und Psychologie: eine Übersicht"; Überlegungen zu interpersonellen Effekten auf die Präferenzen bietet Weizsäcker, 2011, "Homo Oeconomicus Adaptivus", Abschnitt XXIII). Es käme aber darauf an, wie schon Max Weber forderte, das ökonomische Handeln als soziales Handeln zu verstehen und zu erklären.
Verengter disziplinärer Fokus
Viertens bleibt Kahneman in seiner Argumentation bestenfalls bidisziplinär, er fasst psychologische Forschungen zusammen, bezieht sie meist sehr kritisch auf wirtschaftswissenschaftliche Positionen, ohne aber systematisch (bestätigende oder widersprechende) Ergebnisse anderer Disziplinen zu integrieren. Gerade mit Blick auf den Kontextbezug ökonomischen Entscheidens und Handelns liegt ein Bezug zur Soziologie mehr als nahe, der aber ungenutzt bleibt.
Fünftens schließlich wären Implikationen und Grenzen des künstlich arrangierten Experiments als zentraler Methode zu diskutieren. Ganz allgemein vermisst man systematischere und auch kritischere Überlegungen zu der Methodologie, mit der Kahnemans Verhaltensökonomik arbeitet. Bei einem so umfangreichen Buch, hätten ein paar Seiten dafür verfügbar sein sollen.
Selbstreflexion der ökonomischen Bildung
Insgesamt legt Kahneman in verständlicher Form zusammenfassend Ergebnisse jahrzehntelanger Arbeit vor, die insbesondere die ökonomische Bildung vor zahlreiche Aufgaben und in Teilen auch vor die Diskussion über eine Umorientierung stellen.
Die Ergebnisse der Verhaltensökonomik als Inhalte oder Themen in den Unterricht einzuspeisen ist das Eine, das Einfache. Die Verhaltensökonomik aber selbstreflexiv auf Möglichkeiten, Intentionen und unbeabsichtigte Nebeneffekte ökonomischer Bildung ist das Andere, das Schwierige.
Insbesondere die rationalistische ökonomische Bildung muss sich fragen lassen, wessen Geschäft sie betreibt: Ist sie Anwältin der Subjekte und ihrer persönlichen Selbstaufklärung oder Agentin des Mainstreams der Disziplin und seiner Selbstdarstellung? Beides, das zeigen die Forschungen der Verhaltensökonomik überdeutlich, geht weder wechselseitig ineinander auf, noch lässt es sich einfach miteinander vereinbaren.
Wissenschaftlicher Fortschritt und wissenschaftliche Freiheit
Kahnemans Buch zeigt, dass die Rationalitätsannahme mehr als brüchig und die Rationalitätserziehung wenig aussichtsreich ist.
Zugleich zieht sich durch das Buch seine skeptische Einsicht, dass sich die rationalistische Standardökonomik in ihrem Denken bisher durch gegenläufige empirische Evidenz nicht hat sonderlich irritieren lassen: "Theoretische Überzeugungen sind robust, und es bedarf mehr als eines widerlegenden Befundes, damit anerkannte Theorien ernsthaft angezweifelt werden" (S. 439).
Theorieinduzierte Blindheit
Kahneman spricht treffend von „theorieinduzierter Blindheit:
„Sobald man eine Theorie anerkannt hat und als intellektuelles Werkzeug benutzt, ist es überaus schwer, ihre Schwächen zu bemerken. (…) Im Zweifelsfall entscheidet man zu Gunsten der Theorie und vertraut der Gemeinschaft von Experten, die sie für richtig halten“ (S. 340 f.). Er zeigt das am Beispiel von Nutzentheorie/Erwartungstheorie (Bernoulli) und Neuer Erwartungstheorie (Kahneman, Tversky, Rabin, Thaler).
Akzeptanz und Anwendung der in dieser Zusammenschau tiefgreifenden Erkenntnisse aus Kahnemans Buch, die das herrschende ökonomische Paradigma in Frage stellen, dürften deshalb selten sein. Die Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn, Imre Lakatos und Paul Feyerabend stimmen im Grundsatz darin überein, dass Forscher "ihre" Theorien nicht bereits dann aufgeben, wenn sie durch Beobachtungen oder mathematische Argumente widerlegt sind.
Müssen wir dann also auf einen Generationenwechsel hoffen, in dem die überholten Theorien und irreführenden Handlungsempfehlungen für die Jugendlichen nicht durch wissenschaftliche Falsifikation, sondern durch altersbedingte Pensionierung verschwinden?
Lässt der Nachwuchs hoffen?
Wie große Hoffnungen man realistischer Weise auf die Unabhängigkeit im Denken beim fachdidaktischen wissenschaftlichen Nachwuchs setzen kann, wird sich zeigen, wenn diese Personen auf den Professuren angekommen sind, auf denen sie bleiben wollen.
Denn ein offener, freier, selbstständiger und vor allem: kritischer akademischer Geist, der sich auch gegen die Positionen der Lehrstuhlinhaberinnen und -inhaber und die Glaubenssätze des jeweils herrschenden Mainstreams wenden darf, wenn er will!, zählt weder zu den hervorstechenden Charakteristika der disziplinären Leitkultur noch zu den Kernkriterien der üblichen Berufungsverfahren.
Ganz im Gegenteil, das ordinäre Ordinariat kehrt zurück. Dennoch, manchmal setzen sich auch kritische Köpfe durch.
Ob sich Persönlichkeit und Unabhängigkeit im Denken gegen den Anpassungs- und Sozialisationsdruck von Promotion und Habilitation und die durch das Instrument der Zeitverträge abgesicherte Abhängigkeit behaupten können, ist eine offene, aber keine aussichtslose Frage. Denn es besteht einerseits durchaus Hoffnung auf die Herausbildung von wenigen Inseln einer kritischen Kultur ökonomischer Bildung an den deutschen Hochschulen.
Akademischer Kapitalismus
Andererseits wäre man recht naiv, würde man erwarten, dass ausgerechnet die ökonomische Bildung zum bevorzugten Feld kritischer Wissenschaft würde, übernimmt doch ihr Mainstream die Aufgabe, das herrschende wirtschaftliche System und seine Herrschaftspraktiken zu legitimieren statt zu dekonstruieren. Und auch die tiefgreifenden Veränderungen der Universität und ihre Entwicklung zu einer unternehmerischen Organisation sprechen gegen allzu große Erwartungen an wissenschaftliche Kritik an den wirtschaftlichen Verhältnissen.
Richard Münch nennt die neue politische Ökonomie der Hochschulen Akademischer Kapitalismus (2011, Edition Suhrkamp; vgl. Münch, "Akademischer Kapitalismus", auf Zeit Online, 2007, und kritisch Caspar Hirschi, "Gute Wünsche aus Bamberg", 2011, im im Feuilleton von FAZ online). Münch stellt fest:
Managerialer Habitus
"Die junge Generation wächst in das neue System hinein und erwirbt den erforderlichen Habitus, um am neuen Spiel mit Erfolg teilnehmen zu können. Sie forscht, lehrt und lernt nicht um der Erkenntnis willen, zur Ehre ihrer Disziplin und zwecks Anerkennung durch die akademische Gemeinschaft, sondern um Punkte zu sammeln, sodass ihr Punktekonto wächst, Kapital akkumuliert und Rendite erwirtschaftet wird. Für sie ist es dann normal, dass Lehren und Lernen als ein Geschäft zu betreiben sind. Ihr Habitus ist nicht mehr der akademische, sondern der manageriale mitsamt seinen Zwängen, aus allem ein Geschäft machen zu müssen, einschließlich seiner selbst, und der damit einhergehenden Dominanz aller Erscheinungsformen des Vermarktetwerdens und der Selbstvermarktung (vgl. Bröckling 2007)." (Münch 2011, 125; vgl. auch "Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform", Ulrich Bröckling, 2007, Rezension z. B. auf dradio.de, "Egos mit Rendite", 2007).
Schließlich sollte man den leider immer noch spürbaren Minderwertigkeitskomplex vieler Fachdidaktiker gegenüber der jeweiligen Fachwissenschaft in Rechnung stellen (vgl. z. B. für die Deutschdidaktik: Stefan Krammer, "Produktive Verschränkungen. Vom Verhältnis zwischen Deutschdidaktik und Germanistik", in: Susanne Hochreiter u.a., Hg., "Literatur, Lehren, Lernen", Wien u.a., 2006, S. 43-45). Er macht es nicht gerade wahrscheinlich, dass die Forderung nach wissenschaftlicher Reform ausgerechnet aus der Fachdidaktik an die Fachwissenschaft gerichtet wird (Gründe hätte sie schon, da sie beispielsweise besser wissen könnte, wenn sie wollte, wie die jugendlichen ökonomischen Subjekte wirklich denken und handeln).
Die Magd der Königin oder mehr?
Zugespitzt formuliert: Wenn die Volkswirtschaftslehre die Königin der Sozialwissenschaften ist, dann freut sich der Mainstream der Wirtschaftsdidaktik, ihre Magd sein zu dürfen und wird sich schon deshalb jeden revolutionären Gedanken verbieten. Magd der Königin ist einfach besser als Gesinde auf niederen Rängen der Heterodoxie.
Vermutlich werden die Fachdidaktiken auch zukünftig mehrheitlich ihre Bezugsdisziplinen eher ehrfürchtig beobachten, den Glanz der Königsdisziplin möglichst lange auf ihr Haupt scheinen lassen und jeder zukünftigen Wandlung des Mainstreams willig folgen.
Womöglich finden sich aber doch einige, die selbst vorangehen wollen. Wir werden sehen.

Reinhold Hedtke

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