Keine Ahnung vom Wissen

Ein persönlicher Kommentar von Reinhold Hedtke
Wussten Sie, dass Karl-Theodor zu Guttenberg nicht Wirtschaftsminister ist, dass Sie Ihr Subway-Sandwich von einem Franchise-Unternehmen erhalten, dass Sie in Dänemark nicht mit Euro bezahlen können und dass die Herkunftsbezeichnung von Obst und Gemüse im Supermarkt generell verpflichtend ist – es sei denn, dass es verarbeitet ist oder dass es Bananen oder Kartoffeln sind (oder dass die EU inzwischen die 46seitige Verordnung verändert hat)? Können Sie noch ein paar weitere Fragen beantworten, dann sind Sie ein ökonomisch minimal informierter Mensch. Können Sie das nicht, brauchen Sie dringend Wirtschaftsunterricht, „um sich gefahrlos in der Wirtschaftswelt zurechtzufinden“. Verstanden?
Das so genannte minimale ökonomische Wissen erhebt ein Test (zur online-Version), den einige Wirtschaftswissenschaftler entwickelt und Psychologen feingetunt haben. Das Handelsblatt hat ihn und die Ergebnisse breit publiziert. Wozu? Um mal wieder Alarm zu schlagen, wie schlecht es steht um das Wirtschaftswissen der Deutschen, und deshalb auch um Deutschland. Und um mal wieder ein Schulfach Wirtschaft zu verlangen.
Wem nützt es?
Die zentrale Frage lautet aber nicht „Wer weiß was über Wirtschaft?“, sondern „Wem nützt welches ökonomische Wissen?“. Das ist eine im Kern ökonomische und politische Frage. Sie bleibt bisher unbeachtet. Seltsam. Aus ökonomischer Perspektive kann man die Nutznießer daran erkennen, dass sie bereit sind, sich ein bestimmtes ökonomisches Wissen etwas kosten zu lassen. Lernzeit und Lebenszeit, oder Geld und geldwerte Leistungen. Deshalb geht es auch um Transparenz: Wer sind die Akteure der Kampagne für mehr Wirtschaft in der Schule? Wer zahlt wie viel an wen und wofür? Das alles bleibt im Dunkeln.
Inzwischen gehören die notorischen Publikumsbeschimpfungen durch Wirtschaftsverbände, Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspresse schon zum journalistischen Standard. Die Deutschen sind ökonomisch dumm. So schreibt man es in unsere Köpfe, und jahrelang wiederholt, glauben wir es irgendwann. Und stimmen zu, wenn wieder mal mehr Wirtschaft in der Schule helfen soll. Das ist nun wirklich dumm, wie sich leicht zeigen lässt.
Journalistische Kampagne
In Sachen ökonomische Bildung will das Handelsblatt seine Leserinnen und Leser für dumm verkaufen. Es setzt auf Kampagnenjournalismus statt auf Sachinformation samt kritischer Recherche. Seit Jahren fördern Verlag und Redaktion das politische Projekt „Schulfach Wirtschaft“. Da stören Fakten nur. Das Handelsblatt und seine Aktivisten ignorieren, dass heute viel mehr Wirtschaft auf den Stundenplänen steht als je zuvor. Die meisten Schulen unterrichten Wirtschaft heute mindestens so oft wie Politik. Und viel häufiger als Recht oder Gesellschaft. Egal, der Wirtschaftswissenschaftler behauptet einfach mal das Gegenteil.
Es interessiert auch nicht, dass die Schulen darüber hinaus schon jetzt beispiellos viel Lernzeit für ökonomische Bildung verbrauchen: Schülerfirmen, Entrepreneurship Education, Berufsorientierung, Betriebspraktika, Bewerbungstraining und nicht zuletzt: Besuche von Versicherungsvertretern und anderen Wirtschaftslobbyisten. Das ist Schulrealität. Niemand braucht also mehr, aber alle brauchen besseres, problemorientiertes Wirtschaftswissen.
Jede Stunde, die in noch mehr Wirtschaftswissen investiert wird, fehlt für Biologie, Chemie, Physik und Technik. Oder für Literatur, Philosophie, Theater und Gitarrenunterricht. Oder für Rechnen, Schreiben, Lesen. Immer mehr Wirtschaftswissen? Wann ist genug genug? Dass es Ökonomen schwer fällt, Fragen nach den Grenzen des Wachstums zu beantworten, gehört zur déformation professionelle der Disziplin.
Rationale Reflexion stört
Was fehlt, ist eine rationale bildungspolitische Auseinandersetzung, die die Knappheit der Schulzeit, die Explosion des Wissens, die Diversität der Problemfelder, die Vielzahl noch nicht existenter Schulfächer, das notorische Nichtwissen trotz jahrelangen Unterrichts und die vielen Wissenslücken jenseits von Wirtschaft berücksichtigt. Auf der Agenda stehen komplexe bildungspolitische Entscheidungen. Zu komplex, für eine Kampagne, die isoliert nur ein einziges bildungspolitisches Ziel verfolgt: mehr Wirtschaft in die Schule. Da stört der Blick auf Bildung im Ganzen und als Ganzes nur. Lieber setzt man auf Diskreditierung der Durchschnittsdeutschen und populistische Panikmache: Die Deutschen wissen von Wirtschaft nichts, dumme Deutsche, schlimm, wirklich schlimm.
Ökonomisch gesehen machen die Kampagnenführer drei Kardinalfehler. Zum einen scheitern sie daran, eine Rangordnung der Relevanz von Wissensbeständen zu begründen. Warum ist Wirtschaft am wichtigsten? Zum anderen weigern sie sich, die Opportunitätskosten von noch mehr Wirtschaft in der Schule zu berücksichtigen. Welches Wissen kommt erst gar nicht vor, wenn Wirtschaftswissen weiter wächst? Und schließlich können sie den Nutzen des von ihnen präferierten Wirtschaftswissens nicht belegen. Hilft es beim Handeln? Versteht man so die Welt? Profitieren Dritte von der Verbreitung dieses Wissens? Je weniger die Kampagnenmacher diese ökonomischen Kernfragen zum Wirtschaftswissen beantworten können, umso lauter fordern sie umso mehr davon.
Die allzuständige Schule
Dabei ist es keineswegs selbstverständlich, dass sich alle in der Pflichtschulzeit mit Handyrechnungen, Konsumentenkrediten und Geldanlagen beschäftigen müssen. Warum und wozu? Ist das bisschen Schulzeit dafür nicht zu kostbar? Wo hört das auf? Warum nicht auch den Führerschein? Den Tanzkurs? Frisieren und Stylen? Richtig kleiden, professionell auftreten? Was gehört in die Schule, was nicht? Wozu darf man Jugendliche zwingen, was dürfen sie wählen? Die Verwirrung über die Aufgaben der Allgemeinbildung an öffentlichen Schulen ist offensichtlich groß.
Vielleicht könnte man ein wenig ökonomisches Wissen anwenden und so für Abregung sorgen. Zu den ökonomischen Stammtischstandards zählen drei Glaubenssätze: die Menschen wissen im Allgemeinen selbst am besten, was für sie gut ist, die Menschen handeln im Durchschnitt ziemlich rational und im Leben gibt es nichts, aber auch gar nichts umsonst. Das gilt auch für Informationen. Danach würden die Durchschnittsdeutschen in etwa über das ökonomische Wissen verfügen, das ihnen aus ihrer Sicht nützt. Das Handelsblatt und seine Wissensexperten aus der Wirtschaftswissenschaft sehen das anders – begründen das aber nicht. Das von den Leuten freiwillig erworbene Wissen reicht ihnen nicht, falsch und zu wenig, diagnostizieren sie. Deshalb rufen sie nach dem Staat, der mehr ökonomisches Wissen erzwingen soll.
Dumm, aber erfolgreich
Die Deutschen sind ökonomisch dumm, aber erfolgreich – wenn man Einkommen, Vermögen, Arbeitslosigkeit, Produktivität, Exportüberschüsse usw. als Maßstab gelten lassen will. Seltsam. Mag sein, dass die Deutschen ihre Zeit nicht mit dem dummen Wissen verschwenden, das ihnen manche Ökonomen aufdrängen wollen.
Es gibt nichts umsonst, sagen Ökonomen. Das gilt natürlich auch für wissenschaftliche Untersuchungen und Umfragen über ökonomisches Wissen. Der Leser wüsste gerne, wer sie finanziert, dies zu berichten, gehört zum kleinen Einmaleins des seriösen Journalismus. Darüber zu informieren, verlangt auch der Ethik-Kodex der wissenschaftlichen Fachverbände, etwa des Vereins für Socialpolitik oder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Ob die Handelsblatt-Redaktion das interessiert oder nicht, wissen wir nicht. Fest steht, dass sie darüber nicht informiert. Auf Nachfrage sagen die Autoren der Studie, sie haben ihre Erhebung aus eigenen Mitteln finanziert. Wer die zahlreichen Unterrichtsmaterialien des Handelsblatts finanziert, bleibt ungeklärt.
Das Medienecho wurde professionell produziert, die Kampagne konsequent fortgeführt. Dem Publikum wurde wieder einmal eingehämmert: Ich bin das Wissen, deine Wirtschaft. Du sollst kein anderes Wissen neben mir haben. Du sollst das wirtschaftliche Wissen heiligen.
Minderwertiges Wissen
Sollte es dagegen doch um Inhalte ökonomischer Bildung gegangen sein, wäre Mängelrüge angezeigt. Denn inhaltlich können die Lernenden von dieser Art von Wissen erschreckend wenig erwarten.
Mit dem wissenschaftlich zertifizierten Wissensquiz präsentiert das Handelsblatt eine wild-willkürliche Mischung von Fragen (zum Fragebogen: siehe unten). Sie sollen das minimale ökonomische Wissen abdecken. Sieben Professorinnen und Professoren der Volks- und der Betriebswirtschaftslehre haben 25 Fragen vorgeschlagen. Zwei mathematische, drei rechtliche, drei politische, vier sozialstatistische, drei anlagebezogene, vier betriebswirtschaftliche, zwei volkswirtschaftliche und ein paar andere Fragen. Sie glauben, ihre 25 Fragen erfassten das minimale ökonomische Wissen der Bevölkerung in den Feldern Finanzen, Arbeitsökonomik, Konsum und Wirtschaftspolitik. Warum gerade diese Fragen wichtig sind, sagen sie uns nicht.
Offensichtlich ist aber: Mindestens ein Drittel des minimalen Wissens bleibt für Otto Normalverbraucher und Otti Normalbeschäftigte schon im ökonomischen Alltag weitgehend sinnfrei und mentaler Ballast. Dazu gehören die Antworten auf die Fragen:
Wie nennt man den Preisnachlass auf ein Produkt (Frage 1)? Wie nennt man das Wissen, das Menschen durch Ausbildung, Erfahrung und Weiterbildung erwerben (6)? Welches Land hatte 2011 das größte Brutto-Inlands-Produkt pro Kopf (9)? Wie hoch ist die Umsatzsteuer für Lebensmittel in Deutschland (12)? Wie hoch sind die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer für 400-Euro-Jobs (16)? Ist die Herkunftslandangabe für Obst und Gemüse im Supermarkt verpflichtend oder nicht (20)? Wie viel Prozent des Einkommensteueraufkommens wird von der obersten Einkommensklasse getragen (22)? Welcher Minister ist der derzeitige Wirtschaftsminister (23)? Dumme Deutsche? Dummes Wissen!
Sollten Otto oder Otti diese Informationen doch mal brauchen, haben sie sie schnell recherchiert. Mit jedem Smartphone klappt das, fast immer, fast überall.
Dünne Didaktik
Handelsblatt macht nicht nur Politik, sondern auch Schule. Auf die Informationen von „Handelsblatt macht Schule“ jedoch sollten sich an ökonomischer Bildung Interessierte lieber nicht verlassen. Hier präsentieren das Handelsblatt, seine Autodidaktiker und Didaktikprofis Materialien für Schülerinnen und Schüler. Seit Jahren findet man dort ökonomisches Wissen, mehr oder weniger konstant in oft didaktisch dilettantischer, auch schon mal in fachlich fraglicher Qualität, immer mit einer klaren politischen Botschaft, und immer wieder mal einseitig bis manipulativ (vgl. Hedtke 2012, Möller/Hedtke 2011; siehe auch Materialkompass der Verbraucherzentralen, Zeit-Online). 
Gerne kooperiert das Handelsblatt mit Unternehmenspartnern aus der Finanz- und Versicherungsbranche, die sich bei Anlegern, Steuerzahlern, Verbraucherverbänden, Wirtschaftsethikern, Finanzämtern und Strafverfolgungsbehörden, eines fragwürdigen Rufs erfreuen. So dürfen oder durften sich die Deutsche Bank und die Deutsche Vermögensberatung bei ihren zukünftigen Kundinnen und Kunden mittels der Unterrichtsmaterialien vom Handelsblatt schon mal in ein gutes Licht rücken (dazu Lobbypedia). Und dafür zahlen, vermutlich.
Noch Fragen?
Vielleicht wäre es ein passendes Projekt, auch einen Wissenstest für die Wirtschaftsdidaktik zu entwickeln. Dann können die Schule-Macher vom Handelsblatt ihr Wissen prüfen. Hier schon mal zwei vorläufige Vorschläge für Fragen, deren richtige Beantwortung dabei hilft, sich gefahrlos in der Bildungswelt zurechtzufinden:
Frage 1: Wie nennt man die allgemeine Fähigkeit, die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen, um nach unabhängiger Prüfung der Sach- und Interessenlage eigenständige Sachurteile und Werturteile fällen zu können?
(a)  Unabhängigkeitskompetenz
(b)  Eigenständigkeitskompetenz
(c)  Urteilskompetenz
(d)  Prüfungskompetenz
(e)  Anpassungskompetenz
Frage 2: Wie nennt man die didaktische Basisregel, nach dem das, was in der Wissenschaft und/oder in der Politik und/oder in der Gesellschaft umstritten ist, auch den Schülerinnen und Schüler im Unterricht als umstritten vorzustellen ist?
(a)  Konkordanzprinzip
(b)  Kooperationsprinzip
(c)  Konkurrenzprinzip
(d)  Kontroversprinzip
(e)  Koalitionsprinzip
Wirtschaftskriminalität kommt zu kurz
Noch einmal kurz zurück zum Wirtschaftswissen. Seltsam, dass eine Dimension von Wirtschaft in den gängigen Tests immer gern vergessen wird: die ebenso notorische wie universale Wirtschaftskriminalität.
Deshalb eine dritte Frage, die helfen soll, die Deutschen exemplarisch auf die systemische Kriminalität in der Wirtschaft hinzuweisen, über die man für ein gefahrloses Zurechtfinden in der Wirtschaftswelt auch Bescheid wissen sollte:
Frage 3: Wie nennt man die Praxis, Geld am Finanzamt vorbei auf Konten in Länder zu verschieben, die als „sichere Häfen“ gelten, weil sie nicht nach der Herkunft von Bargeld oder Sichtguthaben fragen und mit ausländischen Steuerbehörden nicht kooperieren?
(a)  Sicherungsverwahrung
(b)  Länderfinanzausgleich
(c)  Steuerhinterziehung
(d)  Outsourcing
(e)  Fiskalpakt
Was fehlt: Transparenz
Bildung, auch ökonomische Bildung, hat an Transparenz und Aufklärung noch niemals Schaden genommen. Das gilt sowohl für die transportierten Botschaften selbst, als auch für die Interessen der Transporteure und ihrer Geldgeber. Hier liegt vieles noch im Dunkeln. Auch deshalb bleibt noch viel zu tun.
Ach, übrigens: Der Wirtschaftsminister heißt schon nicht mehr Brüderle, sondern Rösler, und erst demnächst vielleicht erneut zu Guttenberg. Also: schön aufgepasst, immer! Dumm bleiben wäre einfach dumm.
Literaturhinweise:
Hedtke, Reinhold 2012. Die Wirtschaft in der Schule. Agendasetting, Akteure, Aktivitäten. Bielefeld. (hier als pdf)
Möller, Lucca; Hedtke, Reinhold 2011. Wem gehört die ökonomische Bildung? Notizen zur Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Bielefeld. (hier als pdf)
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