Adieu, Homo oeconomicus!
Dennis J. Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), hat in einem großformatigen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung den Homo oeconomicus aus der Ökonomik verabschiedet: "Adieu, Homo oeconomicus" (Printausgabe vom 11.10.2014, S. 24) bzw. "Besitz bedeutet nicht alles" (Süddeutsche.de). Der Artikel eignet sich übrigens bestens für den Einsatz im Unterricht, ganz oder ausschnittsweise.
Snower konstatiert: "Das fundamentale Problem dieses Ansatzes ist, dass der Homo oeconomicus falsch abbildet, wie sich Menschen verhalten."
Die Menschen seien "eben nicht ausschließlich rational, weil Verhalten vor allem durch Emotionen und Erfahrungen gesteuert wird. Sie sind nicht nur selbstbezogen, weil auch Fairness, Leidenschaft und Fürsorge im Menschen verankert sind. Und weil Präferenzen maßgeblich von den sozialen Gruppen abhängen, in denen wir uns bewegen. Auch treibt uns nicht nur Materielles an, sondern persönliche Beziehungen sind uns wichtig, unsere soziale Einbindung."
Deshalb kritisiert Snower die Volkswirtschaftslehre:
"Indem die meisten Ökonomen den Homo oeconomicus verinnerlicht haben, hat unsere Disziplin den Blick auf das Ziel ökonomischer Aktivität verloren: Es geht nicht darum, so materiell reich wie möglich zu werden, sondern unser Wohlergehen muss im Blickpunkt stehen - also ein viel umfassenderes Bild des Wohlbefindens."
"Dabei geht es nicht um eine semantische Übung. Denn das Menschenbild des Homo oeconomicus ist nicht nur ein vereinfachendes theoretisches Konstrukt für ökonomische Modelle. Sondern, wo es sich aus der Wissenschaft heraus einschleicht in Politik, Unternehmenswelt und Gesellschaft, verinnerlichen Menschen das Bild vom Homo oeconomicus und handeln zunehmend danach. Je mehr wir uns auf Allokation und Verteilung fokussieren, desto mehr tritt das Bestreben nach weitreichendem Wohlergehen in den Hintergrund."
Den "gewaltigen Einfluss", den Ökonomen auf "Politik und Gesellschaft" haben, so Snower, könnten sie dann "besser rechtfertigen", wenn sie "offen sind für neue Ansätze und interdisziplinär forschen".
Diese Sichtweise passt bestens zur Position der sozioökonomischen Bildung. Die traditionelle Wirtschaftsdidaktik dagegen bleibt weit hinter der Diskussion in ihrer Bezugsdisziplin Volkswirtschaftslehre zurück.
So schreiben etwa Dirk Loerwald (Universität Oldenburg, IÖB) und Christian Müller (Universität Münster, IÖB): "Gleichwohl stellt das Homo-oeconomicus-Modell auch heute noch den Kern einer ökonomischen Auseinandersetzung mit Wirtschaft, Gesellschaft und Politik dar und ist ein zentrales Alleinstellungsmerkmal ökonomischer Bildung." (Hat das Homo-oeconomicus-Modell ausgedient?, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Jg. 108, H. 3, 2012, S. 450).