Ökonomen scheitern an ökonomischer Bildung

Am 6.7.2012 erscheint in der Druckausgabe FAZ ein Aufruf einer Gruppe von 172 deutschen Ökonomen, mit dem sie sich direkt an alle deutschen Bürger wenden, jetzt schon auf faz.net "Protestaufruf der Wirtschaftsprofessoren" und mit einer prompten Antwort der Kanzlerin "Merkel wehrt sich gegen Ökonomen-Kritik", am nächsten Tag auch Schäuble, er "verurteilt 'Horrormeldungen der Ökonomen".
Philip Plickert dagegen begrüßt auf faz.net den "Weckruf" der Ökonomen, Ulrich Wilhelm denkt ebendort weiter über die Zukunft Europas nach und fordert eine führungskräftige politische Union: "Gebt Souveränität ab!" (7.7.).
Der Ökonomen-Aufruf findet sich u. a. auf tagesschau.de, "Der Protestaufruf der Ökonomen im Wortlaut", oder mitsamt einem kritischen Kommentar im Blog von Olaf Storbeck beim Handelsblatt unter dem Titel "Deutschlands Ökonomen sinken auf Tsipras-Niveau" dazu.
Einen Überblick bieten auch die NachDenkSeiten zum "Ökonomenstreit" als Hinweis des Tages. Dort auch ein Versuch einer grundsätzlichen Einordnung der Debatte samt scharfer Kritik an der Standarddiagnose, die Staatsschulden seien Hauptkrisenursache, von Friederike Spiecker (6.7.): "Die wilde Debatte der Professoren um den letzten EU-Gipfel lenkt ab vom Wesentlichen".
Kritiken, Gegenaufrufe und Verteidigungen

Dieser Aufruf ist allerdings unter vielen anderen deutschen Ökonomen hochgradig umstritten.  Peter Bofinger kritisiert, dass die Autoren des Aufrufs bei Ihrer Ablehnung der Bankenunion verschweigen, dass von möglichen Bankeninsolvenzen in Krisenländern auch Geldinstitute in anderen Euro-Ländern betroffen wären: "Die Hauptleidtragenden solcher Ansteckungseffekte sind deshalb nicht die Wall Street oder die City of London", schreibt Bofinger, "sondern Banken in Frankreich und Deutschland und damit auch der deutsche Sparer und der deutsche Steuerzahler."
Auch Dennis Snower, Chef des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, kritisiert den Aufruf: "Der Aufruf schürt lediglich Ängste und zeigt keinen einzigen Weg zur Lösung der Probleme auf."
Am 6.7.12 kommt dann auch gleich ein Gegenaufruf, der unter dem Titel "Keine Schreckgespenster!" beim Handelsblatt veröffentlicht ist. Autoren/innen sind Bofinger, Horn, Hüther, Marin, Rürup, Schneider und Straubhaar - auch eine aparte Mischung. Und am Abend desselben Tages noch eine weitere argumentativer gehaltene Gegenkritik von Ökonomen "Stellungnahme zur Europäischen Bankenunion" (pdf, hier als html) samt publizistischer Begleitung von Storbeck "Ökonomen-Zoff geht in die nächste Runde". Oder auch von Marc Beise (SZ): "'Der Aufruf ist eine Schande'".
Gegen den öffentlichen Alarmismus wendet sich Ferdinand Fichter vom DIW: "Der Untergang Deutschlands muss warten", und verlangt Alternativen von den Aufrufern (zeit-online)
Die Ökonomen Frank Heinemann und Gerhard Illing unterbreiten auf sueddeutsche.de einen "Vorschlag für eine europäische Bankenunion" (6.7.), kommentiert samt anderen Aufrufen und Interventionen von Marc Beise (7.7.): "Streitet euch, solange ihr noch könnt!": "Jetzt muss alles auf den Tisch. Wenn der Euro daran zerbricht, dann war es jedenfalls gewollt. Wenn er hält, und das ist so sehr zu wünschen, dann hält er besser als vorher."
Inzwischen haben Hans-Werner Sinn und Walter Krämer zur breiten Kritik an ihrem Aufruf Stellung genommen: "Die Risiken der Rettungspolitik" (faz.net 9.7.).
Der Bamberger Soziologe Richard Münch schreibt im Blog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie über "Europa in der Schuldenkrise. Ein mittelfristig zu bewältigender Betriebsunfall oder Ausdruck eines tiefer greifenden Dilemmas der europäischen Integration?" (6.7.). Er unterstreicht u. a., dass fast die Hälfte des Anstieg der Einkommensungleichheit in den ärmeren Ländern auf die europäische Wirtschaftsintegration zurückgehe und kritisiert die "innere Entsolidarisierung der Länder", die in der "Steuer- und Kapitalflucht ihrer reichsten Bürger" zum Ausdruck komme; dies gelte im Grundsatz auch für die reicheren Länder. Leider bleibt am Schluss nur die Hoffnung "auf mehr soziologische Aufklärung". Dann mal an die Arbeit, Soziologie!
Fehlanzeige Europawirtschaftslehre?
Was fehlt: Ein europäischer Aufruf von europäischen Ökonominnen und Ökonomen. Aber das Wort "Volkswirtschaftslehre" verkörpert vielleicht doch viel mehr Nationalstaat(sdenken) als man im Jahre 2012 noch für möglich gehalten hätte. Dazu Überlegungen von Detlef Guertler auf blogs.taz.de "Wirtschaftslehre", der den Begriff "Volkswirtschaftslehre" für anachronistisch hält, weil er nichts mit dem Volk zu tun habe. Na ja.
Michael Hüther (IW Köln) wirft den Aufrufern auf wiwo.de einen "populistisch-nationalen Unterton" vor und gibt ein kritisch-beruhigendes Interview auf faz.net "Das Geld der Sparer ist nicht in Gefahr".
Die deutsche Bevölkerung sieht anscheinend nur noch wenig Sinn im Kampf für die Euro-Rettung: "Mehrheit hält weitere Rettungspakete für sinnlos".
Endlich auch mal Informationen über wenige wissenschaftliche Reaktionen aus dem Ausland auf ftd, auch: "Eichengreen gegen Sinn: Deutscher Aufruf empört Starökonomen" (9.7.).
Mehr Didaktik in die Politik?
Nun verlangt auch Bundespräsident Gauck bessere didaktische Leistungen der Politik und fordert die Bundeskanzlerin auf, "den Bürgern die Maßnahmen zur Euro-Rettung besser zu erklären": "Gauck ermahnt die Kanzlerin" (auf sueddeutsche.de, 8.7.) und "Gauck verlangt von Merkel Klartext" (ftd.de). Gauck selbst erklärt sich und die Eurokrise im ZDF-Sommerinterview. Dass man als selbstverliebter Belehrer mit Erklärungen nicht sehr weit vordringt, muss er wohl selbst noch lernen. Kurt Kister kommentiert auf SZ: "Belehrer aus Bellevue", und auf faz.net trifft Jasper von Altenbockum auf "Lauter Ersatzkanzler", vor denen er Merkel in Schutz nimmt: Wie soll sie die Euro-Rettung erklären, wenn sich nicht einmal die Ökonomen einig sind?
Horst Seehofer weiß, wie immer, was nicht sein darf: Keine Abweichung vom Stabilitätspfad!, erklärt aber sonst auch nichts:  "Seehofer zieht knallharte Grenzlinien für den ESM" (welt.de).
Wie gut, dass Deutschland so viele Mahner und Warner hat und deshalb so gut klagen kann ... Mehr Erklärer brächten mehr Erklärungen und noch mehr Unübersichtlichkeit und das wäre einfach anstrengend.
Kosten, welche Kosten?
Möglicherweise meinen die deutschen Bürger, ein Verzicht auf weitere Rettungsmaßnahmen wäre weitgehend kostenlos für sie oder zumindest billiger. Doch stimmt das wirklich? Was würde passieren, wenn Deutschland sich nicht weiter für die Euro-Rettung engagierte? Wären die Kosten der Nicht-Rettung möglicherweise höher als die Kosten der Rettung? Zu dieser Frage sagen die Autoren des Aufrufs nichts. Das kritisiert etwa Karl-Heinz Paqué in einem Brief an die Aufrufer: "Ökonomenstreit: Praxischeck mit Karl-Heinz Paqué" (ftd, 9.7.).
Opportunitätskosten? Davon ist bei dem undifferenzierten Aufruf keine Rede, wie auch Rainer Maurer, Ökonomie-Professor an der Hochschule Pforzheim, kritisiert: "Die Kunst der Wahl des noch größeren Übels" und "Was passiert bei einem Staatsbankrott der Krisenländer?".
Schließlich: Was weiß die Volkswirtschaftslehre wirklich über Politik, was will sie darüber wissen und ist sie überhaupt bereit, politische Aspekte in die Abwägung einzurechnen? Auch dazu kurze Überlegungen von Paqué , der den Nirwana-Ansatz des schlichten Vertrauens deer Ökonomen in die Selbstverantwortung selbstständiger Nationalstaaten kritisiert und eine "ganzheitliche Betrachtung" und die klare Benennung von Alternativen seitens der Aufrufer einfordert.
Presse und Kommentare
Hier einige weitere Pressemeldungen und Kommentare zum Ökonomen-Aufruhr:
Financial Times Deutschland moniert die Allgemeinplätze des Aufrufs und titelt: "Hans-Werner Sinn, die Euro-Krise und der Stammtisch" und einige Kommentare sammelt FTD WirtschaftsWunder unter dem Zitat "Schlimmste Stammtischökonomie".
Wenig überraschend wenig Kritik bei WeltOnline: "Ökonomen rebellieren gegen EU-Gipfel-Beschlüsse". Dort auch "Ökonomen-Protest stößt bei Kollegen auf Kritik".
sueddeutsche.de: "Breitseite gegen Merkel"
SpiegelOnline: "Volkswirte verteidigen Merkels Euro-Kurs. Replik auf Hans-Werner Sinn"
tagesschau.de: "Offener Brief von Ökonomen gegen Gipfelbeschlüsse: 'Banken müssen scheitern dürfen'"
Zeit online: "Herdentrieb: Deutsche Ökonomen im Panikmodus"

Die Presse: "Top-Ökonomen warnen: 'Wir sitzen in der Falle'" 
n-tv: "Ifo-Chef zerpflückt Bankenunion"
jungewelt.de spricht mit Rudolf Hickel: "'Der Text ist ein richtiges Ärgernis'", ebenso die taz.de: "Experten zoffen sich um die Euro-Rettung: 'Sarrazin der Ökonomie'"
Neues Deutschland: "Unsinn vom Euro-Stammtisch. Nach einem Aufruf von Wirtschaftswissenschaftlern hagelt es Kritik" (7.7.)
Immer noch Ruhe herrscht dagegen auf linksnet.de (10.7.), "linke Politik und Wissenschaft" braucht wohl noch Zeit.
Didaktik, Ökonomik und Politik
Eine kritische didaktische Analyse des Aufrufs kann mit der Identifikation der emotionstragenden Formulierungen im Aufruf starten: "kollektive Haftung", "mit großer Sorge", "Krisenländer", "riesige Verluste", "inflationäre Wirtschaftsblasen der südlichen Länder", "Schuldnerländer", "solide Länder", "Pressionen", "Sozialisierung der Schulden", "Deckmantel der Solidarität", "marode Banken".
Lehrreich auch der Vergleich der Vorabversion und der publizierten Version des Aufrufs im Handelsblog ("Die zwei Versionen des Ökonomenaufrufs"): man sieht, wie wichtig Nuancierungen der Formulierung sind.
Höchst interessant ist die Kritik am politischen Schutz für die Gläubiger und insbesondere der Banken, der ja eigentlich ein Verstoß gegen die Grundprinzipien der Privateigentumswirtschaft ist. Oder gründet der Finanzkapitalismus möglicherweise genau darauf: Auf dem Prinzip der Staatsgarantie für spekulativ eingesetzte Vermögen?
Interessant ist allerdings auch, dass die Ökonomen jede Reflexion über die wirtschaftlichen und sozialen Kosten ihres - übrigens konkrete Vorschläge sorgfältig aussparenden - Appells vermeiden. Ziemlich unökonomisch argumentiert, muss man sagen, oder schlicht: eher unprofessionell, um den politischen Effekt zu erhöhen. Erstaunlicherweise ignorieren sie damit eine Basiseinsicht jeder ökonomischen Grundbildung.
Eine kritikfeindliche Wissenschaftskultur
Auch die Reflexion der eigenen Disziplin zählt nicht zu den Stärken der Volkswirte. Die Didaktik der Sozialwissenschaften ist hier wesentlich weiter als die Orthodoxie der Ökonomik, gehört die Kontroversität doch zu ihren Grundprinzipien. Dagegen verweigert sich die Disziplin der Volkswirtschaftslehre (ihr Mainstream) jeder Kritik und Streitkultur und immunisiert sich seit Jahrzehnten gegen theoretische und empirische Falsifikation (vgl. Georg Quaas: "Es braucht mehr Streit in der VWL", 10.7.).
Ganz ähnlich orthodox geben sich diejenigen Wirtschaftsdidaktiker, für die die ökonomische Bildung in Schulen eine willkommene Gelegenheit zur Missionierung zum Mainstreamdenken ist. An die Stelle offener Probleme, die mit unterschiedlichen Theoriewerkzeugen kontrovers zu bearbeiten sind, treten vorgefertigte, scheinbar eindeutige Lösungen, für die nur noch Anwendungsbeispiele zu suchen sind.
Den Bürger vorschicken
Was soll man tun, folgt man den Apellanten? Die Sorgen seiner Abgeordneten vortragen. Die Ökonomen schicken also die Bürger zum Vortragen beim Abgeordneten, geben ihnen aber kein einziges ökonomisches Argument mit auf den Weg. Sehr sparsam und ein bisschen dünn; jeder Grundkurs Sozialwissenschaften in Klasse 10 oder 11 geht inhaltlich weit darüber hinaus.
Trotzdem: Ökonomische und politische Bildung muss sich mit dieser wichtigen Kontroverse auseinandersetzen, wenngleich auf einem höheren Niveau als die Herren Wirtschaftsprofessoren (samt drei Professorinnen). Es geht in der Schule schließlich um Bildung von Wissen und Kompetenzen, nicht um öffentlichkeitswirksame Gefühlsbildung.
Bildung und Gefühlsbildung
Es mag sein, dass der eine oder die andere am Ende seines kleinen Bildungsprozesses dieselbe Position wie die Aufruf-Ökonomen einnimmt, oder doch Teile davon teilt, aber eben aus guten Gründen. Die muss er oder sie sich jedoch leider selbst erarbeiten. Öffentliche ökonomische Bildung ist bei diesen Ökonomen deshalb in schlechten Händen. Schade, leben Kontroversen doch von Argumenten, nicht von Ängsten.
Reinhold Hedtke