Freie Wahl zwischen "Wirtschaft" und "Sozialwissenschaften"?

Konservative Bildungspolitiker und Unternehmverbände scheinen mit der Fächerwahl französischer Gymnasiastinnen und Gymnasiasten nicht zufrieden zu sein. Wie der Lehrerverband für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (APSES) jüngst meldete, wählen rund 85 % der Lernenden das traditionsreiche Integrationsfach "Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" (Sciences Economiques et Sociales, SES), nur ca. 15 % entscheiden sich für das, auch auf Druck von Wirtschaftsverbänden neu eingeführte Fach "Grundprinzipien der Wirtschaft und Unternehmensführung" (Principes Fondamentaux de l’Economie et de la Gestion, PFEG - hier das ministerielle Bulletin vom 29.4.2010 als pdf).
 Ganz im Gegensatz zum sonst vehement vertretenen Prinzip der freien Wahlentscheidung will, so der Lehrerverband APSES, das Ministerium die Abteilungsleiter an Gymnasien jetzt dazu bringen, die Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger zwangsweise zu etwa gleichen Teilen auf das integriert sozialwissenschaftliche und das isoliert wirtschaftswissenschaftliche Fach zu verteilen. Das Bildungsministerium dementiert zwar, allerdings sollen die Lehrer/innen mehr Werbung für das neue Fach Wirtschaft machen. Mit welchem Druck man zukünftig das Wahlverhalten der Schülerinnen und Schüler steuern will, deutet die Aussage eines Schulleiters an: "Man muss die Wahlfreiheit und die Parität der Disziplinen in Einklang bringen".
 Zu befürchten ist, dass das Prinzip der Wahlfreiheit offensichtlich dann nicht interessiert, wenn es die flächendeckende Durchsetzung konservativ-wirtschaftsliberaler Denkweisen an Schulen stört. Interessant ist allerdings ein inhaltlicher Vergleich der beiden Fächer: Beide bevorzugen einseitig die Volkswirtschaftslehre, wie der Beitrag "Klasse 10: Wirtschaftswissenschaft wählen ... oder Wirtschaftswissenschaft wählen?" auf idies belegt.
 Inzwischen (April 2012) gibt es einen neuen, hoch umstrittenen politischen Vorstoß: Die Fächer SES und PFEG sollen womöglich zu einem Fach integriert werden (vgl. Artikel "Où l'on reparle de la fusion SES -éconoomie-gestion" auf idies). Der Lehrerverband APSES befürchtet, dass die wirtschaftswissenschaftlichen Inhalte und die viel zahlreicheren Wirtschaftslehrer/innen dominieren und alles andere an den Rand drängen werden: "Malgré leur succès, les SES encore remises en question" (3.4.2012).
 Einen Eindruck von der wieder aufgenommenen Kampagne von rechten Politikern, Unternehmern und Wirtschaftslobbys gegen den integrierten Ansatz von "Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" gibt der Beitrag "SES: Wiedereröffnung der Jagd" von Gérard Grosse im Webportal idies.
 Die Parallelen zu den Angriffen auf das Schulfach Sozialwissenschaften, die der Gemeinschaftsausschuss der deutschen gewerblichen Wirtschaft führt, liegen auf der Hand. Besonders bemerkenswert: In Frankreich und in Deutschland ist es dasselbe politische Lager, das gegen Integrationsfächer vorgeht und alle Schülerinnen und Schüler in ein isoliert wirtschaftswissenschaftliches Fach zwingen will.
 Wie die französische Presse die ministeriellen Zwangsmaßnahmen und die lang anhaltenden Angriffe der Arbeitgeber- und Wirtschaftslobbys auf das Integrationsfach Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bewertet, zeigt diese Pressseschau der APSES. In der Zeitung L'Humanité fragt die APSES, "Wer hat Angst vor 'Wirtschafts- und Sozialwissenschaften'?"
Übrigens: Das offizielle Bulletin des französischen Bildungsministeriums zum neuen Fach ist begrifflich präziser als die orthodoxe Strömung der deutschen Wirtschaftsdidaktik. Es spricht korrekterweise immer im Plural von den Grundbegriffen ("concepts fondamentaux") der Wirtschaftswissenschaften ("sciences économiques") und den multidisziplinären Managementwissenschaften ("sciences de gestion").
Die deutsche Orthodoxie dagegen versucht den Eindruck zu erwecken, es gebe eine einheitliche "Ökonomie als Wissenschaft" oder eine "Ökonomie als Erkentnissystem" (vgl. z. B. das Gutachten "Ökonomische Bildung an allgemeinbildenden Schulen" des Gemeinschaftsausschusses der deutschen gewerblichen Wirtschaft, 2010, S. 108, 110). Andererseits sollen das neue Lehramtsstudienfach und das neue Schulfach, das die Wirtschaftslobbys durchsetzen wollen, drei ganz unterschiedliche Disziplinen abdecken: Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsrecht (ebd., S. 113-116).