Realitätsfernes Weltbild und rationalistisches Vorurteil

Mit großer Aufmerksamkeit habe ich die Kurzexpertise der iböb gelesen. Da ich nicht ständig in Berührung mit den wohl seit längerer Zeit ausgetragenen Kontroversen zur Einführung des Fachs „Ökonomie“ an allgemeinbildenden Schulen stehe, kann ich die Auffassungen des „Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft“ nicht im Wortlaut und ausführlichen Begründung nachvollziehen. Aus Ihren kritischen Anmerkungen kann man natürlich deutlich herauslesen, wes Geistes Kind die Vorschläge des Gemeinschaftsausschusses sind. Sie benutzen offenbar ein ökonomistisches Weltbild aus der orthodoxen Schule der Neoklassik (Mikro- und Makroökonomik).

Sie kennen ja meine methodologische Position. Ich habe die veralteten Denkpfade der orthodoxen Ökonomik längst verlassen und Positionen zu entwickeln versucht, die Ihren Vorstellungen sehr nahe kommen, wobei ich einschränkend erklären muss, dass ich mich in wirtschaftsdidaktischen Fragen nicht wirklich kompetent fühle. Dennoch: Meine langjährigen Erfahrungen – zeitweilig auch als Unternehmensberater – haben mir zwei fundamentale Schwächen der orthodoxen Ökonomik vor Augen geführt: Das realitätsferne Weltbild und das rationalistische Vorurteil.

Realitätsferne hat ihre methodologische Quelle in der (idealistischen) Vorstellung, dass man das vollkommene Wirtschaftssystem (vor allem den vollkommenen Markt) deduktiv bestimmen und mathematisch-logisch durchkomponieren kann, um dieses Model zum Maßstab der Wirtschaftspraxis und vor allem der Wirtschaftspolitik zu machen. Das unreflektierte Urvertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes ist eines der Kinder dieser Denkschule, bei weitem natürlich nicht das einzige. Worauf Sie in Ihrer Expertise richtig hinweisen, ist die hochgradige Unübersichtlichkeit und Verflochtenheit der Wirklichkeit in der Praxis von Unternehmen und in der politischen Bearbeitung von – wie wir heute erleben – verwirrenden Konstellationen der nationalen und vor allem internationalen Wirtschaften.

Nicht nur die komplizierte Textur unterschiedlicher Komponenten, welche analytisch kaum allein von irgendeiner wissenschaftlichen Disziplin – schon gar nicht der Ökonomie – angemessen erfasst werden können, sondern auch das weit geöffnete Tor für unerwartete, zum Teil existenzielle Zufallskonstellationen, machen es notwendig, dass sich Schüler, Lehrer und die beteiligten Wissenschaften der Frage zuwenden, wie der Umgang mit komplexen Situationen gelernt werden kann. Wir können den Zufall nicht aus der Welt schaffen (da der unberechenbare Mensch ja selbst vielfach sein Erzeuger ist); wir können aber Tugenden der Risikominderung, der Verantwortung und zugleich des innovativen Wagemutes lernen – um nur wenige Aspekte anzudeuten.

Realitätsferne korrespondiert mit Distanz zur Praxis, hier also speziell der Unternehmenspraxis. Zwar werden im betriebswirtschaftlichen Studium und vermutlich in der Ausbildung von kaufmännischem Nachwuchs üblicherweise und notwendigerweise instrumentelle Grundkenntnisse vermittelt. An dieser Basis kann sicher kein Zweifel bestehen. Verlangt man aber in der Unternehmenspraxis – auch das üblicherweise und notwendigerweise -, dass kaufmännische Mitarbeiter in der Lage sind, unternehmerisch mitzudenken, werden die Mängel einer allzu eng auf instrumentelle Fertigkeiten ausgerichteten Unterweisung rasch deutlich. Meine Vermutung ist, dass sich die Bearbeiter des Gutachtens des Gemeinschaftsausschusses nicht über den begrenzten Horizont der altbackenen Betriebswirtschaftslehre haben hinwegsetzen können. Entsprechend häufen sich die Klagen aus der Unternehmenspraxis, dass die jungen Leute im BWL-Studium eigentlich nichts Vernünftiges lernen (solche Äußerungen habe ich in unzähligen Gesprächen mit Unternehmern und Managern zu hören bekommen).

Ein rationalistisches Vorurteil bildet sich aus der Überzeugung, dass der menschliche Verstand bei genügendem Training in der Lage ist, seine Umgebung (sei sie örtlich eng gefasst oder globale Dimensionen einschließend) nüchtern zu analysieren und planvoll zu beherrschen. Es würde wohl zu weit führen, wollte ich hier den besonderen ökonomischen Rationalismus theoriegeschichtlich zurückverfolgen. Anzumerken ist aber, dass die Vorstellung von der Dominanz des Verstandes über (angeblich) irrationale Antriebe sämtlichen Einsichten der Neurowissenschaften und weiterer benachbarter Wissenschaften widerspricht (z. B. Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen - Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. 3.Aufl. München 2008).

Der analytische Verstand kann logisch-klassifikatorisch alles Mögliche zerlegen und wieder zusammensetzen. Ob das aber Sinn macht, kann der Verstand nicht entscheiden. Der Mensch hat eben nicht nur einen Verstand, sondern ist auch mit Vernunft begabt. Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen, also der Frage nach dem Sinn und der Verantwortbarkeit des eigenen Tuns nachzugehen. Eine auf Verstandesarbeit reduzierte Theorie wie die Ökonomie tut sich methodologisch sehr schwer, die Vernunft allen Wirtschaftens zu thematisieren. Daraus folgt die bekannte Problematik, dass sich die Ökonomie extrem schwer tut, das Fachgebiet „Wirtschaftsethik“ methodologisch zu integrieren.

Was der Gemeinschaftsausschuss offenbar nicht wahrnimmt, ist die Tatsache, dass selbst die Ökonomie (gerade auch im angloamerikanischen Sprachraum) in vieler Hinsicht methodologisch in Bewegung geraten ist. Es deutet sich fast so etwas wie ein Paradigmenwechsel an, der zwar noch sehr zaghaft vor sich hinkeimt, aber deutliche Zweifel am Rationalismus neoklassischer Prägung formuliert. Die beginnende Nachdenklichkeit ist vermutlich den dramatischen Folgen der Naturbeschädigungen und des Klimawandels zu verdanken. Wirtschaften ist Kopfarbeit, und das bedeutet, die komplexe Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns, nicht nur dessen logisch Operationskapazität, ins Spiel zu bringen: durch Erfahrung gestützte Intuition, Vorstellungskraft und Deutungskompetenz, eingebettet in ganzheitliche Situationswahrnehmung.

Das menschliche Gehirn ist keine Maschine, sondern ein individuell mit dem Lebensweg wachsendes Organ, in dessen neuronaler Architektur sich äußere sinnlich reale und mental vermittelte Erfahrungen niederschlagen. Zu den äußeren Erfahrungen gehört in erster Linie das Hineinwachsen in ein vitales kulturelles Klima, welches den Reichtum, aber auch die Begrenztheit innerer Bilder jedes einzelnen Menschen hervorbringt. Individuelle Kultur und mit ihr die überindividuelle Gesellschaftskultur keimt in einzelnen Gehirnen. Das Eingreifen in die physische Welt, also beispielsweise die Ausbeutung einer natürlichen Ressource für produktive und schließlich konsumtive Zwecke, wird stets vom Denken angeleitet. Deshalb gilt nach meiner Auffassung gerade auch für die gesamte ökonomische Lehre der Primat des Kulturellen über das materielle Hantieren. Kultur ist der geistige Mutterboden des Wirtschaftens.

Den Primat des Denkens vor dem dinglichen Tun vorausgesetzt, wird das, was konventionell in der Betriebswirtschaftslehre und teilweise auch in der Volkswirtschaftslehre gelehrt wird, an die zweite Stelle oder die zweite Phase des Handelns gerückt. Das bedeutet aber keineswegs, diese Phase als relativ unwichtig zu betrachten. Jeder kreative Einfall, jede Vision und jeder innere Gestaltentwurf bedarf vor seiner Realisierung einer Überprüfung der Machbarkeit. Machbarkeit schließt die technischen Möglichkeiten, die Verantwortbarkeit gegenüber der sozialen Umgebung und nicht zuletzt die institutionelle Zweckerfüllung ein. Ein Erzeugnis, das die über den Markt artikulierten Bedürfnisse nicht anspricht, erfüllt seinen Zweck nicht und leistet folglich auch keinen Beitrag zum eigenen Ziel, in der Regel ein Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben, summiert also ein Betriebsgewinn.

Jede Art der Ausbildung, die sich auf Instrumentalwissen beschränkt, macht die Betreffenden zu Funktionsspezialisten, die nicht unternehmerisch mitdenken können und schon gar nicht unternehmerisch selbständig tätig werden können. Sie zentriert das Denken auf die rationelle Bewältigung einer isoliert gedachten und praktizierten Funktion und lässt das Zutrauen in die gedankliche Durchdringung von komplexen Situationen des Alltags bis hin zur Erfassung erweiterter Horizonte des Weltgeschehens erlahmen.

Ein besonderes Schulfach „Ökonomie“ kann m. E. dann einen Sinn machen, wenn die damit angesprochene Thematik in einen Zusammenhang mit allen anderen Lehrstoffen gestellt wird. Niemand wird den Sinn und die inneren Kräfte eines realen Wirtschaftssystems ohne Rückgriff auf die Kulturgeschichte als Ganzes verstehen können, und niemand wird den Raumcharakter des Wirtschaftens in geographischen Einheiten gedanklich erfassen und komplex durchdringen können. Es geht auch hier nicht eng um Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsgeographie, sondern um weiter reichende geistige Verflechtungen. Die historische Entstehung der Marktwirtschaften ist passiv und aktiv Teil der Kultur- und Geistesgeschichte (wie das Beispiel des Philosophen Adam Smith zeigt), und die große Vielfalt an pragmatischen Ausprägungen ist durch die örtlichen und regionalen Unterschiede weltweit bedingt. Raumdenken stärkt die Erkenntnis von Vielfalt.

Die Frage stellt sich im akademischen Unterricht an Universitäten und vermutlich auch in anderen Bildungsstufen, ob nicht das Thema „Ökonomie“ besser in Form von kompakten Werkstätten als in Form von Spezialfachunterricht zu vollziehen ist. Meine Empfehlung wäre, das Fach „Ökonomie“ auch im Schulunterricht nicht zu isolieren, sondern integrativ mit anderen relevanten Fachgebieten gemeinsam zu bearbeiten. In einem (noch nicht akkreditierten, aber durchgeplanten) Universitätsprojekt in Österreich wird das zweisemestrige Grundstudium (Unternehmensführung, Tourismus, Regionalentwicklung, Kulturmanagement) gemeinsam absolviert. Es stehen Fächer wie Kulturgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Kulturgeographie, Wirtschaftsgeographie, Soziologie sowie eine allgemeine Methodenlehre des wissenschaftlichen Arbeitens im Mittelpunkt – neben einigen propädeutischen Instrumentalfächern. Das weitere, dann spezialisierte Studium baut regelmäßig mehrtätige interfakultative Kolloquien ein, in denen Studenten unterschiedlicher Fachgebiete in Statements über ihre jeweiligen Arbeiten berichten und diskutieren. Diese Struktur mag sich vielleicht für Gymnasien nicht anbieten. Aber die Grundidee könnte übertragbar sein.

Ich möchte nochmals unterstreichen, dass meine Kommentare die eines didaktischen Außenseiters sind. Ich habe – zumindest den akademischen Unterricht – stets so verstanden, dass die Vorbereitung junger Menschen auf die Lebenswelt (nicht nur auf die Berufswelt) sich nach der Formel ausrichtet: Erfahrung = Erlebnis + Reflektion und dass Unterricht das eigene Erleben nicht ersetzen kann, wohl aber die Reflektionskompetenz als mentale Fähigkeit verstärken kann. Das aber bedeutet, dass die auf Reflektion angelegte Theorie einen wahrnehmbaren Lebensbezug herstellen muss, um von den Lernenden verstanden und angenommen zu werden. Wer das abstrakte Marktmodell der Mechanismen der Preisbildung durch Angebot und Nachfrage als Gegebenheit vorgesetzt bekommt, wird die Wirtschaftswirklichkeit darin nicht wiederfinden. Wie soll auf diese Weise ein erweitertes Verständnis für die Funktionsweisen, die Strukturen und die gesellschaftlichen Einbettungen von Wirtschaftsvorgängen erreicht werden? Wie soll verstanden werden, dass die Wirklichkeit keinen Mechanismen gehorcht, sondern ihre Vitalität sich im Wandel und in harmlosen oder gefährlichen Zufallskonstellationen zu äußern pflegt?