Wachstum als mentale Infrastruktur

"Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam" heißt die 44-seitige Schrift des Sozialpsychologen Harald Welzer (2011), der Professor an der Universität Witten/Herdecke und Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen ist.
Man kann sie kostenlos bei der Heinrich-Böll-Stiftung hier direkt herunterladen.
Zur Anregung für die Lektüre einige Zitate:
Magisches Wachstumsdenken und Illusionismus:
"Tatsächlich erfüllen die gegenwärtigen Debatten über Entkoppelung hier und die Entwicklung anderer Wohlstands- und Glücksindizes dort vor allem die Funktion, die Illusion aufrechtzuerhalten, man könnte im Rahmen des Bestehenden hinreichend viele Stellschrauben nachjustieren, um die negativen Umweltfolgen des Wirtschaftswachstums zu mindern, das Bestehende selbst aber unbeschadet lassen. Dieser weder wissenschaftlich noch wirtschaftspolitisch begründbare Illusionismus belegt selbst, wie magisch und
zwingend das Wachstumsdenken geworden ist." (S. 12)
Wachstum als Paradigma, Staatsaufgabe und Tiefenimprägnierung:
"Bei all dem ist durchaus erstaunlich, dass das Wachstumskonzept in die ökonomische Theorie erst vergleichsweise spät eingewandert ist. Als Zeitkern wird hier die Zeit der «Great Depression» genannt, vor allem aber die Systemkonkurrenz zwischen den kapitalistischen Staaten und der (sowjet-)kommunistischen Hemisphäre, deren Wettbewerb in kommensurablen Wachstumsraten ein probates Maß fand. Den entscheidenden Schub erfuhr das Wachstumskonzept aber erst in der Nachkriegszeit, als man in den westeuropäischen Gesellschaften auf stetiges Wirtschaftswachstum setzte, um soziale Ungleichheiten relativ zu reduzieren und eine möglichst breite Teilhabe am wachsenden Wohlstand zu gewährleisten. Zum Wachstumsparadigma in der Wirtschaft trat Wachstum als Staatsaufgabe. Die enge Koppelung der normativen Vorstellung vom sozialen Frieden an das kontinuierliche Wirtschaftswachstum ist wohl am stärksten für die heutige Tiefenimprägnierung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik durch die Leitvorstellung des unendlichen Wachstums verantwortlich. Die institutionellen Infrastrukturen regulieren das Wachstum, die materiellen manifestieren es, die mentalen übersetzen es in die lebensweltliche Praxis. Sie statten die Bewohner der Wachstumsgesellschaften mit den dazugehörigen Selbstkonzepten und Biographien aus." (S. 13 f.)
Der ökonomische Mensch unter Maximierungszwang:
"Der ökonomische Mensch ist nicht mit der wirtschaftswissenschaftlichen Fiktion des «homo oeconomicus» zu verwechseln, jenem Reaktionsbündel, das auf Reize reagiert, wenn sie ihm einen Vorteil versprechen. Es ist erstaunlich, wie lange sich dieses Menschenbild in der Vorstellungswelt der Ökonomen gehalten hat, obwohl der Behaviorismus in anderen Disziplinen schon vor vielen Jahrzehnten abgedankt hatte. Darin kann man einen weiteren Indikator für die inhaltliche Sklerose der Wirtschaftswissenschaften sehen und hoffen, dass der Vitalisierungsschub, der seit einigen Jahren durch die «behavioral economics» stattfindet, nachhaltig sein wird." (S. 19)
"Der ökonomische Mensch, der über einen individuellen Lebenslauf verfügt und
seiner Lebenszeit das Maximale abgewinnen muss, sieht sich nicht mehr in einen übertemporalen Generationszusammenhang eingebunden, in dem die eigene Lebenszeit nur eine Episode in aufeinander folgenden und aneinander gebundenen Leben ist, sondern eben nur auf das eigene Leben und dessen zeitlichen Horizont verwiesen (Ullrich 2006, S. 26). Auch darum gilt es, möglichst viel aus der verfügbaren Lebenszeit zu machen, möglichst viel Zeit zu sparen, zu nutzen, zu akkumulieren." (S.21)
Mentalität und Konsum:
"Mentale Infrastrukturen sind also nicht nur gebunden an soziokulturelle
Großformationen wie Lebenslaufregime, sondern werden auch – und vielleicht
vor allem – geprägt in Alltagsroutinen, Gewohnheiten, Wahrnehmungs- und
Deutungsmustern, die ihrerseits an den materiellen und institutionellen Infrastrukturen der Außenwelt gebildet sind. Diese Infrastrukturen sind in modernen Gesellschaften nicht nur bestimmt von spezifischen Produktions-, sondern auch von Konsumtionsverhältnissen." (S. 30)