Welches Wirtschaftswissen brauchen wir? Eine moderne, im Lebensalltag brauchbare ökonomische Bildung

Sprecher aus Industrieorganisationen und andere wirtschaftsfreundliche Personen hätten gerne mehr Wirtschaft in der Schule. Was sie sich dabei vorstellen, ist eine auf das Niveau von, sagen wir, Vierzehnjährigen herunter gebrochene Einführung in die Wirtschaftswissenschaften für Studienanfänger, wie es sie auch an den Universitäten gibt. Also Einführungen in die Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre nach Art des Mainstream, neoklassisch, der Fokus auf „dem Markt“. Mit dem Ziel, die jungen Leute mögen endlich „die Wirtschaft“ besser verstehen. Und mit der Hoffnung, dass dann die Menschen mehr Einsicht in die „Notwendigkeiten“ dieser Wirtschaft haben. In den heutigen Zeiten heißt das aus der Sicht der Wirtschaft: Verzicht auf mehr Lohn und Mitsprache, Renteneinbußen, gesellschaftsfinanzierte Bankgewinne, Verständnis für Rationalisierungs-Kündigungen, für Preissteigerungen, und so weiter.

Leeres Wissen …

Traditionelles Wirtschaftswissen berührt Menschen nicht sehr, junge Menschen schon gar nicht. Klassisches VWL- und BWL-Wissen ist für den Lebensalltag der meisten Menschen eine Art Leerwissen, so etwa wie die Kenntnis der Gebissstruktur von Krokodilen für den durchschnittlichen Europäer ein leeres, ein praktisch unbrauchbares Wissen ist. Wissen ist immer dann eine langweilige Angelegenheit, wenn man nicht viel damit anfangen kann und es für den Alltag der Betroffenen auch nicht relevant ist. Die wenigsten können mit traditioneller BWL etwas anfangen, da eben nur ein paar Prozent der Schülerinnen und Schüler Unternehmer werden, und nicht einmal ein paar Promille Finanzminister oder Berater des Finanzministers.

Das Alltagswissen der Menschen heute ist gering, bei den vielen Konsumgütern, die gekauft werden, kennen sich die meisten nur oberflächlich aus, vernünftige Konfliktlösung ist für Viele ein Fremdwort, Risken werden falsch eingesetzt, Wahrnehmung wird oft durch „Gefühltes“ ersetzt, die exakte Ökonomie hat hier sogar einen interessanten Begriff eingeführt, die „gefühlte Inflation“. Das legt zwei Dinge nahe: in den Bildungseinrichtungen wäre zuerst alltagspraktisches Wissen zu vermitteln, und zum Zweiten: die begrenzte Aufmerksamkeit der großen Mehrheit sollte nicht durch Leerwissen vernichtet werden.

Im Alltag gibt es viele Leerinformationen, Talkshows oder Politikerstatements etwa. Eine solche Leerinformation ist für den Großteil der Menschen der täglich in den Fernsehnachrichten verlautbarte Aktienindex. Hier jedoch Vorsicht: genauer besehen ist das eine langfristig recht wirksame Marketingwaffe der Finanzindustrie, die eine heimliche Botschaft transportiert. Tagtäglich gewissermaßen offiziell wiederholt, sickert sie langsam in die Wahrnehmung vieler Menschen: Aktienkurse sind wichtig, da viele ihr Spargeld in Aktien anlegen; und viele tun das, da es offenbar eine vernünftige Sache ist. Eine werblich erzeugte normative Kraft des Faktischen – Krisen werden langsam vergessen, die täglich repetierte Bedeutung der Börsenentwicklung setzt sich hingegen in den Köpfen fest.

Notwendiges Wissen über die gegenwärtige Wirtschaft

Sicherlich, Wirtschaftswissen ist notwendig, denn sonst bleiben die Betroffenen, die Menschen als Verbraucher, Arbeitnehmer und Kleinunternehmer, Marionetten eines für sie undurchschaubaren Systems. Allerdings ist ein etwas anderes Wirtschaftswissen unerläßlich, als der bisher darunter verstandene Stoff. Ein Wissen, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht, und welches das wirtschaftliche Geschehen nicht von der Umwelt und von der Geschichte heraustrennt.

Ein solches neues, allgemein brauchbares Wirtschaftswissen – also: Kenntnis und Verständnis von Wirtschaft - geht davon aus, dass Menschen ihre Wirklichkeit selbst gestalten können, demgemäß politische Akteure sind, sofern sie sich nicht in eine Politikverdrossenheit geflüchtet haben.

Das sind Menschen, die allerdings auch ihre Arbeitskraft, ihr Know How (auf dem Arbeitsmarkt) verkaufen müssen, um sich ihre Lebens-Mittel (vom Konsumgütermarkt) leisten zu können. Diese ‚Marktwirtschaft‘ wird dabei von vielen Unternehmen wie ein Kriegsschauplatz gesehen, auf welchem Konkurrenten eliminiert und Verbraucher ebenso wie Arbeitnehmer manipuliert und korrumpiert werden dürfen. Eine mächtige Branche, die Finanzindustrie, hat in den letzten drei Jahren für mediales Aufsehen erregt, da sie in ihrer Gier Geldkrisen verursacht hat und als egozentrische Lösung für privat lukrierte Boni in Milliardenhöhe sogar ganze Staaten in Geiselhaft ziemlich widerspruchslos hat nehmen können.

Hier wären die Bürger gefordert. Nämlich, ihre Lebensumstände tatsächlich selbst zu gestalten, Strukturen zu transformieren. Dass dies im großen Maßstab gelingen kann, dafür stehen die Ereignisse in Mittel- und Osteuropa 1989, und in diesem Jahr in Tunesien und Ägypten. Menschen können ihre Lebenswirklichkeiten gestalten – in den Konsumgesellschaften und Demokratien westlichen Zuschnitts ist dies vielleicht etwas schwieriger geworden.

Wirtschaft aus der Mehrheits-Perspektive

Es sind die Menschen, die ihre Welt und Umwelt gestalten, oder Entwicklungen einfach treiben lassen. Das wäre der unverzichtbare Grundstein von Bildung. Der nächste Basisstein wäre es, zu erfassen, dass Menschen soziale Wesen sind, die nach sozialer Anerkennung und Teilhabe suchen.

Wie sieht heute solche Anerkennung aus? Ist es das angenehme und freundliche Wesen einer Person, das ihr Anerkennung verschafft, oder der Geländewagen, der vor der Haustür geparkt ist? Was findet im schnelllebigen Alltag mehr Anerkennung: die Kompromissbereitschaft eines Menschen und seine gesprächsweise beigesteuerten Ideen, oder die teure Urlaubsreise auf die Malediven? Haben Konsumgüter unsere Muster wechselseitiger Anerkennung durcheinander gebracht?

Das zweite große Lebensziel, das von Menschen angestrebt wird, ist persönliche Zufriedenheit, persönliches Glück. Mehr Konsumgüter haben, das ist mehr Glück, so trommelt die Werbung. Mehr Geld verdienen, auch wenn es mehr eng begrenzte Lebenszeit kostet, ist für viele ein berufliches Ziel. Ist die Gleichung: Mehr Geld = besserer Konsum = höheres Glück, die unseren Alltags-Common Sense prägt, tatsächlich richtig, oder sieht persönliche Zufriedenheit nicht gänzlich anders aus?

Auf diese zwei – in wirtschaftlichen Erfolg transformierten - Sachverhalte setzt heute Wirtschaft auf. Mit der durch Konsum gekauften Anerkennung werden viele Geschäfte gemacht, ja, auch mit Glücksspiel und Aberglauben dürfen in der modernen Wirtschaft sagenhafte Geschäfte gemacht werden.

Konsumgüter: Lebens-Mittel werden am Markt angeboten und gekauft. Nicht alles ist notwendig und manches ist den Preis nicht wert, Manches kann man auch selbst machen, eine Pizza oder eine Geburtstagstorte etwa, Manches braucht man unbedingt, etwa ein Dach über dem Kopf, Trinkwasser und elektrische Energie; Manches braucht man nicht, ein Volksschulkind braucht beispielsweise kein iPhone, ebenso benötigt es kein eigenes Fernsehgerät im Kinderzimmer. Trotzdem haben mehr als die Hälfte der Kinder von 6 bis 14 Jahren in Deutschland und Österreich ein eigenes Fernsehgerät im Kinderzimmer. Interessant ist, bei den bildungsfernen und einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen haben weitaus mehr Kinder einen eigenen Fernseher, als bei den bildungsstarken Gruppen. Je mehr Medienkonsum Kinder haben (Fernsehen, Internet), desto schlechter sind ihre schulischen Leistungen. Sarkastisch ließe sich sagen, die Medien, die Elektronikindustrie und die Bildungsminister (die ja sehr blauäugig neuen Medien gegenüber sind) hätten sich zusammengetan, um die bildungsfernen Schichten bildungsfern zu halten.
Bestimmen die Menschen selbst, was sie kaufen und haben, oder lassen sie sich das von der Werbung und dem Marketing einreden? Von irgendeiner „gefühlten“ Allgemeinheit als soziale Norm vorgeben, ohne deren Einhaltung es keine soziale Anerkennung gibt?

Asymmetrien

Welche Interessen haben Menschen, die etwas verkaufen und etwas kaufen? Üblicherweise sind wirtschaftliche Aktivitäten keine humanitären Veranstaltungen, es geht ums Geld. Anbieter wollen mit ihren Produkten möglichst viel Geld verdienen, Konsumenten möchten den kleinstmöglichen Preis zahlen. Von der Qualität der Konsumgüter, und inwieweit man diese feststellen und auch verschleiern kann, ist noch gar nicht die Rede.

Geldgierig sind dabei Anbieter wie Käufer. Käufer, also Verbraucher haben regelmäßig allerdings die Nachteile auf ihrer Seite. Sie haben keine organisationale Macht (Autohändler können sich weit leichter organisieren als Autokäufer), die zukaufbare Rechtskenntnis funktioniert für Anbieter wesentlich preiswerter als für Nachfrager (ein Möbelhändler verkauft jahraus, jahrein Möbel, da zahlt sich für die AGB - Erstellung (Allgemeine Geschäftsbedingungen) ein Anwalt schnell aus, für den Verbraucher, der alle paar Jahre einmal ein Möbelstück kauft, kostet das mehr als die Ware kostet), der Händler weiß, was es mit der Ware auf sich hat, der Verbraucher kennt sich normalerweise damit nicht aus, auch wenn er sich das vielleicht einbildet.

Wie Wirtschaft funktionieren kann

Wer diese Grundlagen einmal versteht, sieht wahrscheinlich Wirtschaft und das allgegenwärtige Mantra Wirtschaftswachstum anders, nicht mehr so rosig und nach herkömmlichen PR-Schemata zugeschönt. Die Aufgeklärten können dann aber unterscheiden, wer ihnen aus Geldmachgründen etwas nur andrehen will, oder wer als Anbieter langfristig mit zufriedenen Kunden selbst ohne schlechtes Gewissen seine kurze Lebenszeit verbringen will. Genau hier kommt auch die Ethik des Wirtschaftens ins Spiel, und Ökologie, oder wie es heute heißt: Nachhaltigkeit. Ethisch und nachhaltig sensible, aufgeklärte Verbraucher lassen sich eher keinen Glitzerschund andrehen und „Geiz ist geil“ als Reklameschrei läßt sie auch kalt.

Nicht analytisch „top down“, sondern synthetisch „bottom up“ wäre die Vermittlung von Wirtschaftswissen sinnvoll. Aufgeklärte Verbraucher, aufgeklärte Bürger benötigt die Gesellschaft, die heutigen Machthaber von politischen Funktionen hören das nicht so gern, aber das kann man ihnen nicht ersparen.

Nachhaltigkeit

Die Rohstoffe gehen uns aus, der Klimawandel erzwingt in den nächsten Jahrzehnten Veränderungen, auch wenn uns das nicht sonderlich freut. Um den Umbau unserer Gesellschaft in eine achtsame und humane Gesellschaft kommen wir – auf längere Sicht - nicht umhin, eben so wenig um den Umbau einer Raubbau-Wirtschaft in eine sozial verträgliche, der Gesellschaft dienende, und nicht sie für partikulare Interessen ausbeutende Wirtschaft (siehe: Finanzwirtschaft heute).

Es ist sinnvoll, die Bürger von morgen rechtzeitig mit Bildung darauf vorzubereiten. Ein Teil davon ist eine verantwortliche, nachhaltige und demokratisch reflektierte wirtschaftliche Bildung in der Schule.

Ausgehend von der konsumwirtschaftlichen Seite und ausgestattet mit einem scharfen skeptischen Blick auf das Menschenbild des homo oeconomicus, lässt sich dann mit der Betriebswirtschaft fortsetzen. Eine BWL allerdings, die nicht vor Gewinn- und Wachstumszwängen kapituliert, sondern als Ziel ein langlebiges, der Umwelt verpflichtetes Unternehmen sieht, das sich auch als Teil der Kommune begreift, in der es seinen Standort hat. Damit wäre auch eine zum Leben gebrachte, anstelle einer nur beworbenen CSR (Corporate Social Responsibilty), realisierbar. Eine Entfernung des Wachstumsmantras benötigt auch die VWL. Die längste Zeit waren volkswirtschaftliche Systeme relativ stabile, kaum wachsende Gebilde, sieht man von den wiederkehrenden durch Wetterentwicklungen Schwankungen ab, auch die Entdeckung neuer Rohstoffquellen, etwa im Bergbau, fallen lange Zeit wenig ins Gewicht. Stabilität wäre ein Gegengewicht für Wachstumszwänge und natürlich solche Maßstäbe, die auf den Menschen und nicht auf Geldmengen abstellen. Volkswirtschaftliche Perspektiven wären daher mit wirtschaftspolitischer Kritik auszurüsten und diese an globalen Zielen. Europa als wachstumsbeste Region herzurichten, wie es in der Lissabon-Strategie der Europäischen Union heißt, verträgt sich nicht gut mit dem Ziel einer friedvollen Welt, oder dem Ziel einer hohen Zufriedenheit der Menschen in allen Vierteln und Ecken dieser Erde.

Vergemeinschaftung

Dazu gehört auch, daß die Betroffenen natürlich selbst entscheiden sollen, ob sie eine kommerzielle oder eine gemeinschaftliche (kommunale) Versorgung mit Trinkwasser haben wollen. So wie jetzt eben in Berlin. Oder wie in Paris vor einem Jahr. Die Kommerzialisierungen, die von der Europäischen Union in die Wege geleitet wurden, haben Infrastruktureinrichtungen zu Geldverdienmaschinen für private Investoren gemacht, - selten gab es auch für Bürger Vorteile daraus. Langsam schwingt jetzt das Pendel jetzt zurück, etwa zu kommunalen Energieversorgern, da sich die Bürger ihre Gestaltungsmöglichkeiten zurückerobern wollen. Denn, in seiner Kommune kann der Bürger Einfluss nehmen, bei einem Unternehmen nur, wenn er Eigentümer ist.

Natürlich ist das eine entscheidende soziale, politische und wirtschaftliche Frage: wie viel Geldverdienen einerseits und wie viel Gestaltungsmacht andererseits wollen wir? Mit anderen Worten, VWL ist immer mit gesellschaftspolitischen und politisch-ökonomischen Erklärungsmustern verbunden. Gelingt es, dies zu vermitteln, dann entknechtet man die Betroffenen von einer Black-Box, die als sankrosankte Wirtschaftswissenschaft oft auch ein Herrschaftsinstrument zur Sicherung von Geld- und Machtquellen ist. Und genau dieses Wissen, wie Wirtschaft wirkt und wie man sie gestalten kann, brauchen Menschen. Genau diese Fertigkeiten und Kenntnisse machen ja die Bildung der Menschen aus - Bildung ist ja nicht nur PISA-Wissen, sondern weit mehr. Und heute mehr denn je.

Prof. Dr. Karl Kollmann, Wien, Konsum- und Technikökonom, ist Mitglied des Netzwerkes Nachhaltige Ökonomie, Berlin

Aktuelle Publikationen: Benötigt die Verbraucherpolitik eine Verbrauchertheorie? In: Wirtschaft und Gesellschaft 1 / 2010, S 79-93. +++ Ohnmacht der Verbraucherinnen und Verbraucher - Ein Beitrag zum alltäglichen Konsumverhalten, zu aktuellen Verbraucherproblemen und zu sinnvollen Lösungen. In: Haushalt und Bildung 3/2010: Schwerpunkt: Orientierung im Konsumdschungel?! Verbraucherbildung. S 3-16. +++ Zus. m. Alexander Unger: Kaufsucht in Österreich - 2010. Bericht zur siebten österreichischen Kaufsuchtgefährdungsstudie. Materialien Konsumentenpolitik 1/2010, Wien 2010.